2/16 Vor-Stadt - Leseprobe
Johanna Rolshoven
Vor-der-Stadt – Die Tentakel der Moderne und die Entpolitisierung des Sozialen
Die Stadtränder erhalten weniger politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit als die Innenstädte. Warum dies so ist, lässt sich mit einer Gemengelage aus ökonomischen Interessen und wirtschaftlicher Bedeutung, symbolischen und ästhetischen Markern begründen. Die Fama der Kernstadt als Ort der Urbanität in dem folgenreich von Louis Wirth 1938 definierten Sinne von Vielfalt, Dichte und Heterogenität[1] stellt sie in den Fokus aufwertender Diskurse, während ihre Ränder als „noch nicht“ oder „nicht mehr“ verdrängt, vernachlässigt, und als bedeutungsvolle Orte der Gesellschaft unterschlagen werden.
Das wissenschaftliche Interesse an der Zwischenstadt, an Sub-Urbia und Agglomeration besetzen eher ArchitektInnen und Raumplaner denn Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen, deren Vorstellung von der Vorstadt die eines ungeordnetem ausgefransten Raumes sein mag, von grauen, tristen, banalen Quartieren, von „Problemvierteln“ in all ihren Unwägbarkeiten oder von „Einsamkeitszonen“[2] mit Einfamilienhäusern. Als historischer Ort der städtischen Revolte, als Ort der Abbildung gesellschaftlicher Integrationskrisen und als Ort der nicht eingelösten Zukunftsversprechen weckt die Vorstadt das Interesse der SozialarbeiterInnen, einiger HistorikerInnen, KriminologInnen und EthnologInnen.
Dem Begriff der Vorstadt haftet einerseits ein Noch-Nicht-Stadt (außen vor der Stadt) an, sie stellt das Versprechen auf Ankunft in der Stadt dar; anderseits bedeutet sie Distanz und Abstand, was sowohl Aufgenommenwerden als auch Ausgeschlossenbleiben bedeuten kann. Bei alledem ist die Vorstadt zugleich eine Position in der Stadtentwicklung, eine historische Form des Urbanismus, eine besondere Architekturform, ein ökonomischer Standort und ein städtischer Sozialverband, eine neighbourhood, mit einem eigenen wirtschaftlichen Gepräge. Die Bindemittel innerhalb einer vorstädtischen Nachbarschaft sind – zwischen arm und reich – vielfältig und weisen ein breites Spektrum zwischen Unabänderlichkeit, Verbindlichkeit und Wahlmöglichkeit auf. Zu ihnen zählen geografische und soziale Provenienz und biographischer Ort, etwa wenn die BewohnerInnen geteiltes soziales Leid, ein sichtbar erwirtschafteter Wohlstand oder eine Aufstiegsorientierung verbindet, die Raum-Zeit der Familiengründungsphase oder des Ruhestandes, eine politische oder ökologische Orientierung u.a.m.