1/19 Töten - Leseprobe
Thomas Pogge
Haben Sie schon einmal einen Menschen getötet?
Betrachtet man Tötungen aus der aktiven Perspektive, dann denkt man an Menschen, die andere Menschen umbringen. Im Jahr 2016 wurden 0,21% aller Todesfälle durch Kriegseinwirkung verursacht, 0,06% durch Terrorismus und weitere 0,71% durch Tötungsdelikte – zusammen 541.252 Tode, weniger als ein Prozent. Mit 1,49% lag die Anzahl der Selbsttötungen erheblich höher.[1]
Betrachtet man das Thema aus der passiven Perspektive, dann erweitert sich der Horizont. Man fragt sich dann, welche Todesfälle durch menschliche Entscheidungen, also auch durch soziale Institutionen oder allgemein übliche Praktiken herbeigeführt werden und durch Reformen derselben abgewendet werden könnten. Am 24.-25. November 2012 verbrannten mindestens 112 Menschen bei einem Großbrand in der neunstöckigen Tazreen-Fashion-Textilfabrik in der Nähe von Dhaka. Vollgestopft mit hochbrennbaren Materialien, hatte das Gebäude keine Feuerlöschbrausen, keine Notausgänge und war wegen seiner abseitigen Lage für Löschzüge der Feuerwehr nur schwer erreichbar. Die Anzahl der Toten war ungewöhnlich hoch, aber Feuer in südasiatischen Textilfabriken kommen alle paar Wochen vor – und andere Katastrophen ebenfalls, wie z.B. am 24. April 2013 der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza, der 1134 Menschen das Leben kostete.[2]
Die Opfer solcher „Unfälle“ sterben nicht nur, sondern werden getötet, und das nicht von anonymen Naturereignissen, sondern durch menschliche Entscheidungen. Verschiedene Personengruppen sind da kausal relevant. Da sind zunächst einmal die FabrikbesitzerInnen, denen Sicherheitsmaßnahmen zu teuer sind. Da sind die staatlichen GebäudeinspektorInnen, die regelmäßig bestochen werden. Da sind die PolitikerInnen, die sich ebenfalls bezahlen lassen und außerdem ihr Land für Investitionskapital attraktiv machen wollen und deshalb oft Firmen lästige Regeln ersparen. Da sind die großen Textilfirmen, die ihre Produktion häufig umstellen („fast fashion“) und immer schnell weltweit dorthin verlegen, wo sie aus den Arbeitskräften so viel wie möglich so billig wie möglich herausholen können: C&A, H&M, KIK, Ikea, Benetton, Hilfinger, Gap, Aldi, Lidl, Carrefour, El Corte Ingles, Walmart, Enyce, Edinburgh Woollen Mill, Karl Rieker, Piazza Italia, Teddy Smith Ace, Dickies, Delta Apparel, Bon Marche, Cato Fashions, The Children’s Place, Infinity Woman, Joe Fresh, Mango, Matalan, Primark, Texman, Li & Fung, Infinity Women und wie sie alle heißen. Und da sind schließlich die preis- und modebewussten TextilkundInnen, die im Schnitt 14 kg Textilien pro Jahr kaufen und dafür gut 100 Euro pro Kopf ausgeben (in reicheren Ländern wie Österreich und Deutschland sind es eher 800 Euro pro Kopf für durchschnittlich 20 kg Textilien). Wer hier getötet wird, ist klar; wer diese Menschen tötet, weniger. Das Verhalten dieser verschiedenen Personengruppen ist kausal relevant; aber heißt das, dass sie alle südasiatische Textilarbeiterinnen getötet haben?[3]