SH6 Leben im Netz - Editorial und Leseprobe
Paula Helm
Leben im Netz
Woran denken wir, wenn wir das Wort „Netz“ hören? Vielleicht an Fische, die sich in Maschen verfangen, um von dort aus in die Münder und Mägen der Menschen zu gelangen. Oder an Spinnen, die mit ihren Netzen tödliche Fallen bauen, die so filigran sind, dass sie manch einen an einem taufrischen Morgen in Entzücken zu versetzen vermögen. Oder an den Ball, der am Pfosten abprallt, das Netz haarscharf verfehlt und damit sowohl Wellen der Erleichterung als auch solche der Fassungslosigkeit auslöst. Fest steht: Das Netz ist eine ambivalente Angelegenheit. Für die einen bedeutet es Sicherheit und Gewinn, für die anderen ist es ein Verhängnis.
Wenn wir heute das Wort „Netz“ hören, so bringen wir dies nicht mehr unbedingt mit Tau und Tang oder Spinnen und Fischen in Verbindung. Stattdessen evoziert das Wort Bilder von Strommasten, Kraftwerken, Datenzentren, Webpages und Interfaces. Das ist nicht verwunderlich, denn diese Bilder verweisen alle auf die ein oder andere Weise auf eben jene digitalen Technologien, welche unser Leben mittlerweile maßgeblich prägen. Im Rahmen dieser Technologien ist es das Internet, welches für sich reklamiert das Netz der Netze, das Inter-Netz zu sein (auch wenn die Fische und Spinnen dieser Welt davon wohl noch nichts mitbekommen haben). Als Inter-Netz hat das Internet eine Metafunktion. Es verbindet Netzwerke miteinander und spannt so ein noch viel größeres Netz. Doch wer profitiert von diesem Netz? Und wer tut dies nicht? Wer fällt durch die Maschen? Wer verheddert sich in ihnen?
In diesem Sonderband interessieren wir uns für derartige Ambivalenzen, die der Trope des Netzes und seiner gegenwärtigen technologischen Ausprägung anhaften. Wir fragen uns, wie es um diese Ambivalenzen bestellt ist, wenn wir es nicht mehr mit einzelnen Netzen zu tun haben, sondern mit einem Netz aus Netzen, an welchem diverse Akteure gleichzeitig bauen und gestalten. Dieses gleichzeitige Bauen und Gestalten verläuft mitnichten einvernehmlich. Stattdessen wird dabei gezogen und gezerrt. Verknotungen bilden sich. Maschen reißen ein. Trotz erbitterter Verteilungskämpfe sind mit dem Internet nach wie vor diverse Hoffnungen verknüpft. Dazu zählen etwa ein egalitär verteilter Zugang zu Bildung und Informationen, mehr demokratische Partizipation, Widerstand gegen autoritäre Regime oder transnationale Verständigung (Coleman 2013, boyd 2015, Arora 2019).
Neuere Entwicklungen rücken jedoch vermehrt problematische Dynamiken in den Vordergrund. Beispielsweise lässt sich stellenweise eine derartige Verdichtung der Maschen beobachten, dass es mitunter kaum mehr angebracht scheint, im Bild einer luftigen, durchlässigen Struktur zu sprechen. Vielmehr drängt sich der Vergleich mit einem undurchsichtigen Knäuel (oder auch der sprichwörtlichen Black Box, Pasquale 2015) auf. Für die zunehmende Verdichtung ist vor allem die sich zementierende Oligarchie der sogenannten Big Five verantwortlich. Damit sind die Internetgiganten Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple gemeint (van Dijck et al., 2018: 2). Die Oligarchie dieser fünf Unternehmen basiert auf der Analyse von Daten. Als Vorreiter des Überwachungskapitalismus haben sie früh genug erkannt, dass Daten heute weit mehr Funktionen erfüllen, als „nur“ die einer digitalen Währung (Zuboff, 2019). Stattdessen sind Daten nichts weniger als das Garn, aus dem das Internet gestrickt wird.
Dieses Garn, d.h. die Daten, wird von Nutzer*innen massenhaft erzeugt (Mayer-Schöberger/Cukier, 2013). Die Unternehmen wiederum sammeln sie und speisen sie in Machine Learning Algorithmen ein, die auf das Ziel hin programmiert werden, Nutzerinnen immer tiefer einzuwickeln, um den Big Five immer mehr Netzanteile in Form immer dichterer Datenknoten zu sichern (Susser et al., 2019). Eine Schlüsselrolle spielen dabei solche Algorithmen, die mittels der Kombination aus Empfehlungen und Auto-Play-Mechanismen darauf ausgerichtet sind, Personen in sogenannten „Filterblasen“ oder „Echokammern“ einzuschließen, im Rahmen derer sie fortwährend weitere Daten produzieren (Schmidt 2019). Anstatt zu verbinden, spalten diese Blasen und Kammern jedoch bestehende Netzwerke immer dramatischer voneinander ab. Das Netz der Netze droht derart zum Anti-Netz zu werden. Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden mit Blick auf politische Deliberation, gesellschaftliche Solidarität und personale Autonomie als zunehmend destruktiv beschrieben (Couldry/Mejias, 2020; Vaidhyanathan, 2019).