2/20 Klima - Leseprobe
Tobias Becker
Grafiken statt Graphen als visuelle Argumente
Wie die Warming Stripes kulturelle Konzeptionen von Klima(-wandel) verändern
„Climate change is a complex global issue, requiring simple communication about its effects at the local scale“, schrieb der Klimawissenschaftler Ed Hawkins, als er 2018 auf seinem Blog mehrere ähnlich aussehende Grafiken vorstellte. „This set of visualisations highlight [sic] how we have witnessed temperatures change across the globe over the past century or more. [...] All other superfluous information is removed so that the changes in temperature are seen simply and undeniably.“[1] Hawkins’ sogenannte Warming Stripes oder Climate Stripes zeigen aneinandergefügte schmale Längsstreifen, die in der linken Bildhälfte in dunklen Blautönen gehalten sind, ab der Bildmitte in hellere Farbnuancen übergehen und sich zu einem immer kräftigeren Rot verschieben, das den rechten Bildrand dominiert. Die Farbskala basiert auf den jährlichen Durchschnittstemperaturen von 1850 bis 2018 und veranschaulicht die globale Erwärmung. Über eine Download-Plattform lassen sich diese Datenvisualisierungen länderspezifisch generieren und unter dem Hashtag #ShowYourStripes in den sozialen Medien teilen. Doch auch weit darüber hinaus erfuhren die Warming Stripes eine breite Verwendung in der medialen Berichterstattung, bei UN-Konferenzen und Klimaprotesten, als Strickmuster für Schals, auf Kaffeetassen, Krawatten und vielem mehr. Das Streifenmotiv wurde zu einem Teil der kollektiven Bildsprache im Klimawandel-Diskurs und zu einem Gegenstand populärer Kultur. Im Alltag der Vielen dient es als kommunikativer Beweis, um die wissenschaftliche Faktizität des Klimawandels zu plausibilisieren und klimapolitisches Handeln zu motivieren. Nicht Graphen (vgl. Schneider 2018: 171–211), sondern Grafiken fungieren hier als einprägsame „visuelle Argumente“ (Mersch 2006). Die Streifen sollen Klimawandel bezeugen. Und überzeugen.
Eine kulturanthropologische Analyse solcher Viskurse als „das Zusammenspiel von visuellen Darstellungen und ihre Einbettung in einen fortlaufenden kommunikativen Diskurs“ (Knorr-Cetina 1999: 247)[2] kann alltägliche Aneignungen, Adaptionen und semantische Aufladungen empirisch dicht beschreiben. Dazu bediene ich mich zum einen ikonografisch-ikonologischer Ansätze, um Visualisierungsstrategien zu analysieren (vgl. Heintz/Huber 2001) und um an medienwissenschaftliche Klimawandel-Studien anzuschließen (vgl. Doyle 2016, Schneider/Nocke 2014, Schneider 2018, Grevsmühl 2019). Zum anderen geht es mir kulturanalytisch um konkrete Nutzungen und Deutungen der Streifenbilder, die ich konzeptionell als „immutable mobiles“ (Latour 1986: 7) verstehe; als formstabile, durch verschiedene gesellschaftliche Bereiche zirkulierende Transitmedien. Ich möchte zeigen, wie sich über eine visuelle Evidenzstiftung mittels Grafiken statt Graphen auch die Art und Weise wandelt, wie wir Klima wissen (vgl. Hulme 2009: 1–33). Inwiefern bilden die Warming Stripes Klima(-wandel) nicht nur ab, sondern gestalten dessen kulturelle Konzeption auch selbst mit? Meine These lautet: Eine veränderte Auffassung des Miteinanders von ästhetischer Sinnlichkeit und argumentativer Sinnfälligkeit fordert auch unser Klimaverständnis heraus.