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2/21 Solidarität - Leseprobe

 

Cover der Solidarität-Ausgabe

Jasmin Behrends[1]

Fürsorgliche Solidarität
Aktivistische Praktiken und europäische Grenzgewalt zwischen Frankreich und Italien

Die Migrationsbewegungen nach Europa in den Jahren 2015 und 2016 über das zentrale Mittelmeer, die Ägäis und die sogenannte Balkanroute markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Europäischen Union. Zahlreiche Menschen überquerten Grenzen und gelangten an diverse Orte in Zentraleuropa, mit dem Ziel, sich ein besseres Leben aufzubauen. Heute lässt sich an den EU-Außengrenzen ein systematisches Aufrüsten des Grenzschutzes beobachten, der mit Hilfe von rassistischen und extrem gewaltvollen Praktiken Völkerrechtsbrüche nicht nur in Kauf nimmt, sondern mit dem Ziel der permanenten Abschottung eine Nekropolitisierung an den Rändern Europas aktiv vorantreibt (Hess 2021). In dieser Gemengelage verlassen bis heute eine Vielzahl an Menschen auf ihrem Weg nach Europa ihre bestehenden sozialen Netzwerke, wodurch sie auf ihrer Flucht auf Fürsorge und Schutz von außen angewiesen sind. Aufgrund dieser ausgeprägten Sorgelücken und sozialen Ungerechtigkeit, haben sich besonders seit dem langen Sommer der Migration (Kasparek und Speer 2015), aber auch bereits davor, aus Solidarität zahlreiche Graswurzelbewegungen entlang der europäischen Grenzgebiete gegründet und alternative Fürsorgenetzwerke aufgebaut.

Das Thema Sorge, Fürsorge oder Care ist indes eher als Kernfrage feministischer Politik bekannt und wird häufig entlang der Arbeitsverhältnisse klassischer feminisierter und abgewerteter Bereiche der Kinderbetreuung, der Pflege, der Bildung und der Hausarbeit diskutiert. Sorgearbeit in Verbindung mit Aktivismus, der darüber hinaus in europäischen Grenzgebieten stattfindet, wird selten in Debatten über Care thematisiert. Doch Care und Solidarität scheinen in diesem konkreten Kontext eng miteinander verschränkt. Um dieses Phänomen genauer zu analysieren habe ich[2] mit Hilfe von Expert:inneninterviews mit Aktivist:innen der Graswurzelorganisation Kesha Niya[3] gesprochen, welche im französisch-italienischen Grenzgebiet selbstorganisierte Geflüchtetenhilfe leistet und damit außerhalb der offiziellen Strukturen staatlicher oder humanitärer Hilfe agiert. Ausgehend von der Annahme, dass es eine enge Verbindung zwischen Solidarität und Fürsorge gibt, schaue ich mir spezifische aktivistische Praktiken an, die an einem konkreten Ort Sorgearbeit in Form kollektiver Handlungen leisten. Meine These ist hierbei, dass das Kümmern um die Bedürfnisse Anderer sich an diesem Ort mit dem Bewusstsein über gesellschaftliche Ungleichheit und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit verbindet. Der Aufbau von horizontalen Beziehungen zwischen Menschen in Bewegung[4] und Aktivist:innen scheinen Schlüsselelemente dieser solidarischen Praxis zu sein. Die hier sichtbare spezifische Form der Solidarität und ihre Verschränkung mit fürsorglichen Praktiken identifiziere ich im weiteren Verlauf als fürsorgliche Solidarität  (Behrends, Stühlen, und Reinhardt 2021). Anhand der Interviews werde ich die Ambivalenz dieser fürsorglichen Solidarität diskutieren, die im Kontext ausgeprägter asymmetrischer Machtverhältnisse und strukturierter Positionen stattfindet.

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2/21 Solidarität - Inhalt

Urbane Utopien und das Versprechen der Solidarität
Lara Hansen

Recht-auf-Stadt-Bewegungen in Venedig
Sorgetragen für die Stadt als solidarische Praxis
Cornelia Dlabaja

Ethnographisches Forschen über solidarische Halt-ungen und Werte
in einem privilegierten New Yorker Großstadtviertel
Ein Lernprozess
Brigitte Zamzow

Solidarisch gegen Rassismus in Österreich
Melanie Kandlbauer und Noomi Anyanwu

Gefängniskundgebungen als solidarische Praxis während der Pandemie
Hannah Rotthaus

„Organisation der Klassensolidarität des Proletariats mit den Opfern seiner Kämpfe“
Solidaritätspraktiken und die Verwendung des Solidaritätsbegriffs in der Roten Hilfe Deutschlands der Weimarer Republik
Silke Makowski

Schwesterliche Solidarität?
Klassenspezifische Exklusionspraktiken der bürgerlichen Frauenbewegung im Kampf um (neue) Berufsfelder im deutschen Kaiserreich
Mette Bartels

Es geht um solidarisches Umverteilen!
Beispiele antiklassistischer Praxis
Maja Bogojević, Felix Gaillinger, Lena Hennes
mit einer Illustration von Marie Moldenhauer

Eine Frage der Haltung
Kathrin Gerlof

Solidarität statt Brüderlichkeit?
Über Geschichte und Bedeutung zweier politischer Begriffe
David Palme

Demokratisierung als Abrüstungspolitik
Von der Verletzbarkeit zur Solidarität
Gregor Berger

Bau-Steine einer Politik pro-migrantischer Solidarität
Ein Gespräch
Jakob Roßa und Philipp Piechura

Fürsorgliche Solidarität
Aktivistische Praktiken und europäische Grenzgewalt zwischen Frankreich und Italien
Jasmin Behrends

Baumschutz für alle
Lisa-Viktoria Niederberger

Polyphony and solidarity,
or how to do things with documentaries

Sander Hölsgens

Fotodokumentation zum Comitato No Grandi Navi
Cornelia Dlabaja

 

2/21 Solidarität - Editorial

Solidarität revisited

Lange Zeit war Solidarität ein wichtiger Begriff in (linken) politischen Kontexten und in der Arbeiter_innenbewegung – als internationale Solidarität der Unterdrückten und als Klassensolidarität des Proletariats. Von Black Lives Matter über Zero Covid bis zur Seebrücke und Solidarisierung mit Flüchtenden – aktuell rückt der Begriff „Solidarität“ in verschiedensten Kontexten wieder in den Mittelpunkt. Solidarität wurde über die letzten Monate aber auch zum Werbe- und vorgeblichen Werteslogan der Querdenker_innen, die zum Zwecke der Mobilisierung „Freiheit, Solidarität und Widerstand“ propagieren. Ebenso wird immer häufiger von der politischen Rechten und rechtsextremen Parteien „Solidarität mit der eigenen Bevölkerung“ beschworen.

Die (Weiter-)Entwicklung und der Wandel von Solidaritätsvorstellungen führt dazu, dass sich in vielfältigen neueren sozialen Bewegungen die Frage nach Solidarität wieder und neu stellt: Mit wem, mit was oder wogegen zeigen sich Menschen solidarisch? Welche Gesichter kann solidarische Verbündetenschaft haben? Und wie sieht gelebte Solidarität eigentlich aus? Wie können gelebte solidarische Strukturen institutionalisiert und nicht-institutionalisiert funktionieren? Was ist Solidarität und was ist sie nicht? Wie kann eine Praxis der Solidarität begründet werden? Wie können solidarische Praxen aussehen? Wie steht die Solidarität zum Widerstand und wie zur Utopie?

Nicht zuletzt geht es bei der Diskussion um Solidarität auch darum, uns selbst zu befragen, wie und inwieweit wir im aktivistischen, künstlerischen, akademischen und alltäglichen Umfeld, im Organisationsalltag und in Forschungspraktiken solidarisch handeln. Wie wird mit Entsolidarisierungsprozessen umgegangen? Wie viel Platz bleibt für Solidarität unter neoliberalen Zwängen? Und welche neoliberalen Imperative können auch hinter scheinbar solidarischem Handeln stecken? Wird diesen Fragen nachgegangen, wird allzu deutlich, dass es darauf keine einfachen und eindeutigen Antworten gibt – nicht geben kann. Solidaritätsvorstellungen sind historisch gewachsen und facettenreich.

Die vorliegende Ausgabe des kuckuck widmet sich dem Thema „Solidarität“ aus verschiedensten Perspektiven und mittels unterschiedlicher Formate. So versammelt dieses Heft eine bunte Mischung aus akademischen, essayistischen und literarischen Texten, aktivistischen Reflexionen und Appellen sowie fotodokumentarischen Beiträgen, die Solidarität in den Mittelpunkt ihrer Ausarbeitungen stellen. Dabei finden sowohl theoretische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit Solidarität Eingang als auch empirische Forschungen, die verschiedene Aspekte und gegenwärtige sowie historische Bedeutungen und Aushandlungen von Solidarität aufzeigen.

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