Solidarität revisited
Lange Zeit war Solidarität ein wichtiger Begriff in (linken) politischen Kontexten und in der Arbeiter_innenbewegung – als internationale Solidarität der Unterdrückten und als Klassensolidarität des Proletariats. Von Black Lives Matter über Zero Covid bis zur Seebrücke und Solidarisierung mit Flüchtenden – aktuell rückt der Begriff „Solidarität“ in verschiedensten Kontexten wieder in den Mittelpunkt. Solidarität wurde über die letzten Monate aber auch zum Werbe- und vorgeblichen Werteslogan der Querdenker_innen, die zum Zwecke der Mobilisierung „Freiheit, Solidarität und Widerstand“ propagieren. Ebenso wird immer häufiger von der politischen Rechten und rechtsextremen Parteien „Solidarität mit der eigenen Bevölkerung“ beschworen.
Die (Weiter-)Entwicklung und der Wandel von Solidaritätsvorstellungen führt dazu, dass sich in vielfältigen neueren sozialen Bewegungen die Frage nach Solidarität wieder und neu stellt: Mit wem, mit was oder wogegen zeigen sich Menschen solidarisch? Welche Gesichter kann solidarische Verbündetenschaft haben? Und wie sieht gelebte Solidarität eigentlich aus? Wie können gelebte solidarische Strukturen institutionalisiert und nicht-institutionalisiert funktionieren? Was ist Solidarität und was ist sie nicht? Wie kann eine Praxis der Solidarität begründet werden? Wie können solidarische Praxen aussehen? Wie steht die Solidarität zum Widerstand und wie zur Utopie?
Nicht zuletzt geht es bei der Diskussion um Solidarität auch darum, uns selbst zu befragen, wie und inwieweit wir im aktivistischen, künstlerischen, akademischen und alltäglichen Umfeld, im Organisationsalltag und in Forschungspraktiken solidarisch handeln. Wie wird mit Entsolidarisierungsprozessen umgegangen? Wie viel Platz bleibt für Solidarität unter neoliberalen Zwängen? Und welche neoliberalen Imperative können auch hinter scheinbar solidarischem Handeln stecken? Wird diesen Fragen nachgegangen, wird allzu deutlich, dass es darauf keine einfachen und eindeutigen Antworten gibt – nicht geben kann. Solidaritätsvorstellungen sind historisch gewachsen und facettenreich.
Die vorliegende Ausgabe des kuckuck widmet sich dem Thema „Solidarität“ aus verschiedensten Perspektiven und mittels unterschiedlicher Formate. So versammelt dieses Heft eine bunte Mischung aus akademischen, essayistischen und literarischen Texten, aktivistischen Reflexionen und Appellen sowie fotodokumentarischen Beiträgen, die Solidarität in den Mittelpunkt ihrer Ausarbeitungen stellen. Dabei finden sowohl theoretische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit Solidarität Eingang als auch empirische Forschungen, die verschiedene Aspekte und gegenwärtige sowie historische Bedeutungen und Aushandlungen von Solidarität aufzeigen.
Im ersten Teil des Heftes spüren die Autor_innen solidarischen Praktiken in städtischen Kontexten nach. Lara Hansen beschäftigt sich auf Basis ihrer empirischen Erhebungen in Hamburg mit der gestaltenden, aber auch konfliktreichen Interaktion zwischen Utopie und der Solidarischen Stadt. Aus Perspektive der kulturanthropologischen Zukunftsforschung zeigt sie auf, wie “Solidarität als kollektive Beziehungsweise” für die postmigrantische Gesellschaft aussehen kann. Auch der Beitrag von Cornelia Dlabaja legt konfliktäre Aushandlungen in der Stadt in Hinblick auf den gegenwärtigen Alltag, aber auch die Zukunftsperspektiven der Stadtbewohner_innen dar. Am Beispiel von Venedig gibt sie Einblick in lokale Recht-auf-Stadt-Bewegungen und Praktiken des Protests sowie Sorgetragens im Zuge der Touristifizierung und Kommodizifierung. Eine im Rahmen ihrer Forschung entstandene Fotodokumentation erstreckt sich zudem über die gesamte Ausgabe. Brigitte Zamzow widmet sich in ihrem Beitrag den Solidarisierungspraktiken verschiedenster Akteur_innen des New Yorker Stadtteils Gowanus im Kontext der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit von Wohnraum. Die ethnografische Forschung zeigt auf, dass das großstädtische Nachbarschaftsleben durch solidarisierte Alltagspraktiken innovative, kollektive Zugehörigkeitsformen hervorbringt.
In ihrem Kurzessay reflektieren die Black-Voices-Aktivistinnen Melanie Kandlbauer und Noomi Anyanwu den solidarischen Kampf gegen Rassismus in Österreich und zeigen Handlungsmöglichkeiten anti-rassistischer Arbeit auf. Um ein gleichberechtigtes Mitwirken von People of Color in der österreichischen Gesellschaft zu realisieren, verweisen sie auf das aktuelle Anti-Rassismus-Volksbegehren, dessen Unterzeichnung wir auch unterstützen. Beitragsbegleitend sind in dieser Ausgabe Fotos von Murtaza Elham zu sehen, der die Black-Lives-Matter-Demonstrationen in Wien fotografisch begleitet hat und auf welchen sich im Sommer 2020 knapp 100.000 Protestierende gegen rassistische Polizeigewalt solidarisch zusammenfanden.
Im zweiten Teil des Heftes widmen sich die Beitragenden verschiedenen historischen und gegenwärtigen Solidaritätspraktiken und -überlegungen. Hannah Rotthaus gibt Einblick in die solidarische Praxis von so genannten „Knastkundgebungen“ im aktuellen Pandemiegeschehen, welches die Haftbedingungen und die Zeit nach der Entlassung verschärft. Auf Grundlage ihrer empirischen Forschung beleuchtet sie, welchen solidarischen Bewegungen sich die involvierten Akteur_innen zuordnen und welche Rolle die physische Anwesenheit der Teilnehmenden spielt, die außerhalb der Kundgebungen nicht möglich ist. Aus historischer Perspektive widmet sich Silke Makowski dem Solidaritätsbegriff im organisationsinternen Diskurs der Roten Hilfe Deutschlands zur Zeit der Weimarer Republik. Am Beispiel der bürgerlichen Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich widmet sich Mette Bartels der schwesterlichen Solidarität beim Zugang zu den Berufen der Gärtnerin und der Fotografin. Sie zeigt auf, wie das klassenbezogene Selbstverständnis In- und Exklusionspraktiken der zivilen Frauenbewegung leiteten. Maja Bogojević, Felix Gaillinger und Lena Hennes zeigen in ihrem Beitrag anhand zweier Beispiele antiklassistischer Umverteilungspraxis auf, wie Identitätspolitik mit Strukturkritik und -veränderung Hand in Hand geht und dass das eine nicht ohne das andere auskommt.
In einem erfrischenden literarischen Essay hinterfragt die freie Autorin und Journalistin Kathrin Gerlof die Cancel-Culture im Kontext von Kunstschaffenden und resümiert, dass das Schönste an der Solidarität sei, dass sie sich nicht verordnen lässt, sondern sich in ihrem Sein entfaltet.
Der dritte Teil der Ausgabe liefert zunächst theoretische Überlegungen zur Bedeutung von Solidarität aus begriffsgeschichtlicher Perspektive. David Palme untersucht in seinem Beitrag, dass der auf die Französische Revolution zurückgehende Dreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ mit dem heutigen Solidaritätsverständnis unvereinbar ist und wo sich die Begriffe „Brüderlichkeit“ und „Solidarität“ grundlegend in ihrer Bedeutung unterscheiden. Statt der Brüderlichkeit steht die Abrüstung des Selbst im Zentrum von Gregor Bergers Beitrag, denn ohne, dass wir uns unserer Verletzbarkeit innerhalb der Gesellschaft bewusst werden und Demokratisierungsprozesse anstreben, könne es keine Solidarität geben. Im Anschluss an diese Beiträge werden empirische wie reflektierende Einblicke in Solidaritäten im Kontext von Flucht_Migration gegeben. Im Gespräch zwischen Philipp Piechura und Jakob Roßa treffen sich zwei Perspektiven auf Solidaritätspraktiken und -verständnisse im Kontext pro-migrantischer Bewegungen, während sich im darauffolgenden Beitrag Jasmin Behrends fürsorglichen Solidaritäten im Kontext aktivistischer Praktiken im Umgang mit Grenzgewalt zuwendet und dabei das Sich-Kümmern als herrschaftskritische Praxis in das Verständnis von Solidarität miteinbezieht.
Im Fokus des letzten Teils des Heftes stehen solidarisierende Praktiken mit nicht-menschlichen Akteur_innen. Lisa-Viktoria Niederberger geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie sich das Miteinander und Gegeneinander von Menschen und Bäumen in Linz entwickelt hat. Sie veranschaulicht, wie die Koexistenz aussehen kann und welche soziale sowie kulturelle Funktion Stadtbäume aktuell erfüllen. Die Ausgabe schließt mit einem Kurzessay von Sander Hölsgens zu den produktiven Spannungen in den Verflechtungen zwischen Dokumentarfilm und Solidarität. Am Beispiel der Golden Snail Opera zeigt er ein mehr als menschliches Netzwerk der Solidarität durch polyphone Inszenierungen von mehreren Arten, die gemeinsam leben, auf.
Solidarisches Lesevergnügen wünschen
Jo Menhard und Sarah Nimführ