Thomas Pogge
Haben Sie schon einmal einen Menschen getötet?
Betrachtet man Tötungen aus der aktiven Perspektive, dann denkt man an Menschen, die andere Menschen umbringen. Im Jahr 2016 wurden 0,21% aller Todesfälle durch Kriegseinwirkung verursacht, 0,06% durch Terrorismus und weitere 0,71% durch Tötungsdelikte – zusammen 541.252 Tode, weniger als ein Prozent. Mit 1,49% lag die Anzahl der Selbsttötungen erheblich höher.[1]
Betrachtet man das Thema aus der passiven Perspektive, dann erweitert sich der Horizont. Man fragt sich dann, welche Todesfälle durch menschliche Entscheidungen, also auch durch soziale Institutionen oder allgemein übliche Praktiken herbeigeführt werden und durch Reformen derselben abgewendet werden könnten. Am 24.-25. November 2012 verbrannten mindestens 112 Menschen bei einem Großbrand in der neunstöckigen Tazreen-Fashion-Textilfabrik in der Nähe von Dhaka. Vollgestopft mit hochbrennbaren Materialien, hatte das Gebäude keine Feuerlöschbrausen, keine Notausgänge und war wegen seiner abseitigen Lage für Löschzüge der Feuerwehr nur schwer erreichbar. Die Anzahl der Toten war ungewöhnlich hoch, aber Feuer in südasiatischen Textilfabriken kommen alle paar Wochen vor – und andere Katastrophen ebenfalls, wie z.B. am 24. April 2013 der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza, der 1134 Menschen das Leben kostete.[2]
Die Opfer solcher „Unfälle“ sterben nicht nur, sondern werden getötet, und das nicht von anonymen Naturereignissen, sondern durch menschliche Entscheidungen. Verschiedene Personengruppen sind da kausal relevant. Da sind zunächst einmal die FabrikbesitzerInnen, denen Sicherheitsmaßnahmen zu teuer sind. Da sind die staatlichen GebäudeinspektorInnen, die regelmäßig bestochen werden. Da sind die PolitikerInnen, die sich ebenfalls bezahlen lassen und außerdem ihr Land für Investitionskapital attraktiv machen wollen und deshalb oft Firmen lästige Regeln ersparen. Da sind die großen Textilfirmen, die ihre Produktion häufig umstellen („fast fashion“) und immer schnell weltweit dorthin verlegen, wo sie aus den Arbeitskräften so viel wie möglich so billig wie möglich herausholen können: C&A, H&M, KIK, Ikea, Benetton, Hilfinger, Gap, Aldi, Lidl, Carrefour, El Corte Ingles, Walmart, Enyce, Edinburgh Woollen Mill, Karl Rieker, Piazza Italia, Teddy Smith Ace, Dickies, Delta Apparel, Bon Marche, Cato Fashions, The Children’s Place, Infinity Woman, Joe Fresh, Mango, Matalan, Primark, Texman, Li & Fung, Infinity Women und wie sie alle heißen. Und da sind schließlich die preis- und modebewussten TextilkundInnen, die im Schnitt 14 kg Textilien pro Jahr kaufen und dafür gut 100 Euro pro Kopf ausgeben (in reicheren Ländern wie Österreich und Deutschland sind es eher 800 Euro pro Kopf für durchschnittlich 20 kg Textilien). Wer hier getötet wird, ist klar; wer diese Menschen tötet, weniger. Das Verhalten dieser verschiedenen Personengruppen ist kausal relevant; aber heißt das, dass sie alle südasiatische Textilarbeiterinnen getötet haben?[3]
1. Trennung von Tötung und Schuld
Vier Klärungen mögen diese Frage voranbringen. Erstens sind Tötung und Schuld voneinander zu trennen. Nicht jedes Töten ist zurechenbar oder schuldhaft. Man kann „aus Versehen“ töten – oder sogar ohne jedes Versehen, wenn etwa einer sehr vorsichtigen Fahrerin ein Tier vors Auto springt. Also: Man kann jemanden töten und trotzdem am Tode der/des Letzteren unschuldig sein.
Ebenso gilt umgekehrt, dass man am Tode eines/einer anderen schuldig sein kann, auch wenn man diese/n nicht getötet hat. Ein kleiner Junge liegt bewusstlos auf dem Bürgersteig, eine Frau sieht ihn und ruft nicht den Unfalldienst. Wenn der Junge stirbt, hat die Passantin Schuld an seinem Tod – und hat ihn dennoch nicht getötet, sofern sie nicht aktiv zu seinem Tod beigetragen hat.
Solch ein aktiver Beitrag läge vor, wenn die Frau am Unfall des Jungen beteiligt war, zum Beispiel durch einen Zusammenstoß der beiden oder dadurch, dass sie ihn zum Versuch eines Salto Mortale animiert hatte. Solch ein aktiver Beitrag wäre auch dann gegeben, wenn sie vorher eine besondere Verantwortung („Garantenstellung“) übernommen hätte, zum Beispiel die einer für diesen Jungen zuständigen Babysitterin oder die Rolle einer Ärztin oder Polizistin in einem Land, in dem InhaberInnen dieser Rollen allgemeine Hilfspflichten in medizinischen Notfällen haben. Fehlt solch ein aktiver Beitrag, dann spricht man besser von unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge, die allerdings, bei gleichem Gemütszustand der handelnden Person, genauso schuldhaft sein kann wie (aktive) Tötung.
2. Normativität des Tötungsbegriffs
Trotzdem ist der Begriff der Tötung kein rein physikalischer Begriff, also keiner, über dessen Zutreffen man unabhängig von Motiven und moralischen Beurteilungen entscheiden könnte. Eine Touristin erklärt sich bereit, einen einheimischen Mann mit ihrem Segelboot ein wenig von der Küste wegzubringen, weil man dort, unbehelligt von Brandung und überspülten Felsen, sicherer und angenehmer schwimmen kann. Sie sonnt sich dann auf ihrem Boot, treibt ab, und er ertrinkt, weil er bei ablandiger Strömung den Weg zurück zum Ufer schwimmend nicht schafft. Hat sie ihn getötet? Die empirischen Fakten allein geben keine Antwort. Wenn sie absichtlich abtrieb, weil sie seinen Tod beabsichtigte, dann würden wir die Frage bejahen. Ebenso wenn wir glauben, dass die Frau, durch Angebot einer Mitfahrgelegenheit, die Pflicht übernahm, den schwimmenden Mann im Auge zu behalten. Andererseits werden wir verneinen, dass sie ihn getötet hat, wenn wir ihm die Verantwortung zuschreiben, mit ihr vorab eine Rückfahrgelegenheit zu vereinbaren.
Solche Verantwortungsfragen sind auch im Zusammenhang mit den häufigen „Unfällen“ in südasiatischen Textilfabriken von Wichtigkeit. Vor einigen Jahrzehnten war die vorherrschende Meinung, dass dabei zwar Menschen umkommen, aber nicht von anderen getötet werden: Einer Frau wird ein Job angeboten, den sie ablehnen und auch jederzeit wieder kündigen kann. Nimmt sie an, freiwillig und gegen Lohn, übernimmt sie damit auch die Verantwortung für die dazugehörigen Risiken und die Abschätzung derselben.
Heute sehen wir es anders. Bangladeschs Staatsanwaltschaft hat gegen die Tazreen-FabrikbesitzerInnen, das Ehepaar Delwar Hossain und Mahmuda Akter, Anklage wegen fahrlässiger Tötung erhoben. Die Anklage weist darauf hin, dass die FabrikbesitzerInnen wichtige Feuersicherheitsvorschriften verletzt haben – Vorschriften, die auch dann verbindlich sind, wenn Fabrikarbeiterinnen in deren Verletzung einwilligen. Es leuchtet sofort ein, dass solche Vorschriften bei der Verantwortungs- und Schuldzuweisung eine zentrale Rolle spielen. Interessant ist, dass sie auch als relevant erachtet werden für die Frage, ob die FabrikbesitzerInnen die erstickten und verbrannten Arbeiterinnen getötet haben.
Die Anklage gegen die BesitzerInnen ist politisch motiviert. Man lenkt die Aufmerksamkeit auf die FabrikbesitzerInnen und suggeriert amtliche Tatkraft und Vorliegen eines Einzelfalls. Der Prozess zieht sich endlos hin und wird schließlich im Sande verlaufen, weil man es sich mit der mächtigen Textilindustrie nicht verderben will. Gegen die GebäudeinspektorenInnen, die die Sicherheitsmängel in dem 2009 eröffneten Tazreen-Hochhaus von Anfang an ignoriert hatten, wird gar nicht erst ermittelt, weil dadurch offenbar würde, dass Sicherheitsbestimmungen im ganzen Land eher kosmetische Funktion haben und nirgendwo ernsthaft durchgesetzt werden. Und gegen die ausländischen Käuferfirmen, die die Textilfabriken gegeneinander ausspielen und unter brutalen Zeit- und Preisdruck setzen, wird kein Wort gesagt – und auch nicht gegen die KundInnen dieser Firmen, die nach Billigware suchen ohne einen Gedanken an die Arbeiterinnen, deren Monatslöhne von 50-65 Euro solche Schnäppchen ermöglichen.[4] Schließlich resultieren ja 91% der Exporteinnahmen Bangladeschs aus der Textilbranche.[5]
Auch wenn es 2012 in Bangladesch keine rechtlich verbindlichen Sicherheitsvorschriften gegeben hätte, würden viele heutzutage bejahen, dass die FabrikbesitzerInnen die Arbeiterinnen (fahrlässig) getötet haben. Wir verweisen bei der Begründung dieser Aussage auf die moralische Pflicht der FabrikbesitzerInnen, ihren Arbeitskräften einigermaßen sichere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Es ist moralisch unerlaubt, diesen Arbeitskräften – besonders, wenn sie bettelarm sind – einen Verzicht auf solche elementaren Sicherheitsvorkehrungen abzupressen. Dadurch, dass die FabrikbesitzerInnen ihre Arbeiterinnen pflichtwidrig einem erheblichen und vermeidbaren Risiko aussetzen, welches sie erkennen oder hätten erkennen sollen, töten sie solche Arbeiterinnen, die diesem Risiko zum Opfer fallen.
Auch die GebäudeinspektorInnen haben, ganz unabhängig von den ihnen aus ihrem Arbeitsvertrag erwachsenden rechtlichen Verbindlichkeiten, die moralische Pflicht, FabrikbesitzerInnen, notfalls mit Strafandrohung, dazu anzuhalten, wichtige Sicherheitsbestimmungen einzuhalten. Die in Bangladesch übliche Vernachlässigung dieser Pflicht ist für viele Todesfälle ursächlich: Hätten die InspektorInnen ihre Pflicht getan, dann hätten die FabrikbesitzerInnen ihre Arbeiterinnen nicht lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen aussetzen können und viele der in Fabrikunfällen umgekommene Arbeiterinnen wären dann heute noch am Leben. Sollen wir auch von diesen InspektorInnen sagen, dass sie Arbeiterinnen (fahrlässig) getötet haben – dadurch nämlich, dass sie sie pflichtwidrig einem erheblichen und vermeidbaren Risiko ausgesetzt haben, welches sie erkannten oder hätte erkennen sollen?
Die beiden Fälle unterscheiden sich dadurch, dass die Kausalkette im zweiten Fall über eine andere pflichtwidrige Entscheidung läuft. Die FabrikbesitzerInnen verursachen den gefährlichen Zustand ihrer Fabrik direkt. Die InspektorInnen verursachen ihn indirekt: dadurch, dass sie pflichtwidrig das pflichtwidrige Verhalten der BesitzerInnen nicht zu verhindern suchen. Ist dieser Unterschied für die Anwendbarkeit des Tötungsbegriffs relevant?
Wir kennen Fälle aus dem Strafrecht, die diese Frage erhellen. Ein Polizist sieht ein Kind, das in einem seichten Brunnen am Ertrinken ist. Der Polizist kann das Kind leicht und gefahrlos retten und ist dazu rechtlich und moralisch verpflichtet. Weil er nichts tut, kommt das Kind um. Ein Polizist sieht wie ein Kind von einem Verbrecher übel gewürgt wird. Der Polizist kann das Kind leicht und gefahrlos retten und ist dazu rechtlich und moralisch verpflichtet. Weil er nichts tut, wird das Kind zu Tode gewürgt. Das Verhalten des ersten Polizisten wird im Strafrecht eindeutig als Tötung eingestuft. Das des zweiten eher nicht.[6] Das muss wohl daran liegen, dass im zweiten Fall ein besser geeigneter Kandidat zur Verfügung steht: Wir denken, dass der Polizist das Kind nicht getötet haben kann, weil es ja von dem Verbrecher getötet wurde. Dieser Gedanke taucht interessanterweise in einem dritten Fall nicht auf, wo der Polizist das Kind leicht und gefahrlos davor bewahren kann, von einem Hund zu Tode gebissen zu werden. Hier behandelt das Gesetz das Nichteingreifen, wie im ersten Fall, als Tötung, wohl mit dem Gedanken, dass der Hund strafrechtlich als Täter nicht infrage kommt.
Besonders im angloamerikanischen Sprachraum sträuben sich manche dagegen, dass die pflichtwidrig passiven Polizisten in diesen drei Fällen getötet haben sollen. Mir leuchtet nicht ein, dass diese drei Fälle unterschiedlich behandelt werden sollen. Wenn die Polizisten im ersten und dritten Fall ein Kind getötet haben, dann auch im zweiten. Diese These wird unmittelbar dadurch gestützt, dass die drei Polizisten sich in gleicher Weise gleich schuldhaft gemacht haben. Und sie wird nicht dadurch entkräftet, dass im zweiten Fall natürlich der Verbrecher ebenfalls das Kind getötet hat. Genau diese Kombination von einem/einer direkt und einem/einer indirekt Tötenden liegt schließlich auch bei Auftragsmorden vor, wo die verdiente Mordanklage gegen den/die Hitman/Hitwoman niemanden daran zweifeln lässt, dass auch der/die AuftraggeberIn eine solche Anklage verdient.
Die in der Tazreen-Fabrik verbrannten Arbeiterinnen sind von den BesitzerInnen der Fabrik getötet worden und auch von den bestechlichen und faulen GebäudeinspektorInnen, deren Dienstpflicht es war, solche Katastrophen abzuwenden. Nun haben auch Bangladeschs PolitikerInnen eine moralische Pflicht, die Sicherheit der arbeitenden Bevölkerung zu schützen, sofern das plausibel machbar und finanziell tragbar ist. Diese Pflicht erfüllen sie nicht durch bloßen Erlass geeigneter Regeln und Anstellung von InspektorInnen, sondern erst dadurch, dass sie auch für die effektive Durchsetzung dieser Regeln sorgen. Hätten die PolitikerInnen ihre Pflicht getan, dann hätten die InspektorInnen Sicherheitsmängel nicht so eklatant und dauerhaft ignorieren können (solche InspektorInnen wären entlassen worden), und vielen Arbeiterinnen wäre dann ein Feuertod erspart geblieben. Und so kann man auch diesen PolitikerInnen eine aktive Beteiligung an der Tötung von Textilarbeiterinnen zuschreiben – dadurch, dass auch sie diese Arbeiterinnen einem erheblichen und vermeidbaren Risiko ausgesetzt haben, welches sie erkannten oder hätte erkennen sollen.
Die großen Textilfirmen haben eine moralische Pflicht, dafür zu sorgen, dass die durch ihre Aufträge ausgelöste Arbeit unter menschenwürdigen Bedingungen stattfindet. Hätten sie diese Pflicht ernstgenommen, dann hätten sie – durch ökonomischen Druck und auch ohne Mitwirkung von Bangladeschs PolitikerInnen und staatlich bestellten InspektorInnen – für sichere Arbeitsbedingungen in ihren Zulieferketten gesorgt. Sofern sie diese Pflicht nicht erfüllt haben, sind auch sie an der Tötung der Arbeiterinnen aktiv beteiligt.
Schließlich kann man auch von den KäuferInnen von Textilprodukten behaupten, dass sie ebenfalls die moralische Pflicht haben, dafür zu sorgen, dass die durch ihre Käufe ausgelöste Arbeit unter menschenwürdigen Bedingungen stattfindet. Sie können das dadurch tun, dass sie Einfluss auf die großen Textilfirmen ausüben, also zum Beispiel den Kauf von Waren vermeiden, die unter lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen hergestellt worden sind. Die dazu notwendigen Informationen können KäuferInnen sich aus verschiedenen Quellen besorgen, etwa aus den Medien, von verschiedenen Nicht-Regierungsorganisationen[7] und auch von der Internationalen Arbeitsorganisation.[8] Solange wir KäuferInnen, ohne Rücksicht auf Arbeitsbedingungen, die preisgünstigsten Waren bevorzugen, reizen wir die miteinander konkurrierenden Textilfirmen dazu an, bei der Bestellung der Ware in Südasien ebenfalls vor allem auf die Relation von Preis zu Qualität zu achten. Und insofern leistet unser indifferentes Kaufverhalten ebenfalls einen notwendigen Beitrag zum Fortbestand lebensgefährlicher Arbeitsbedingungen in Südasien. Auch wir kommen als MittöterInnen der verbrannten Arbeiterinnen infrage.
3. Identifizierung der Opfer
Das Risiko von Bränden mit Toten ist bei Textilfabriken nie ganz auszuschließen. Deshalb mag es oft unklar sein, welche Opfer bei besserer Ausstattung dieser Fabriken überlebt hätten und insofern fahrlässig getötet wurden. Diese Unklarheit untergräbt jedoch nicht die Anwend-barkeit des Tötungsbegriffs. Wissen wir, dass bei angemessener Feuerwappnung der Tazreen-Fabrik höchstens 12 Arbeiterinnen dem Feuer zum Opfer gefallen wären, dann können wir schließen, dass die FabrikbesitzerInnen mindestens 100 Arbeiterinnen getötet haben – auch wenn wir von keiner der toten Frauen mit Gewissheit sagen können, dass sie überlebt hätte. Analoges gilt für die anderen MittöterInnen, für die PolitikerInnen etwa, die ihre Pflicht vernachlässigen, die Gefährlichkeit von Bangladeschs Textilfabriken auf ein akzeptables Maß zu reduzieren.
4. Identifizierung der Töter
Wer einen Tod verursacht, tötet. Oft sind mehrere Akteure involviert. In manchen Fällen ist das unproblematisch. Es leuchtet ein, dass Hitman/Hitwoman und AuftraggeberIn getötet haben und ebenso FabrikbesitzerIn und InspektorIn. Schwieriger wird es, wenn Gruppen töten.
Nehmen wir an, die FabrikbesitzerInnen verteidigen sich mit folgender Rede: „Die Tazreen-Fabrik gehört uns beiden, zu gleichen Teilen. Nach Satzung dürfen größere Ausgaben nur mit Zustimmung beider BesitzerInnen vorgenommen werden. Weil wir beide strikt gegen Feuerwappnung unserer Fabrik waren, hat keiner von uns getötet. Denn keiner von uns konnte die nötigen Ausgaben gegen das Veto des anderen durchsetzen.“ Wollen wir die unglaubwürdige Konklusion vermeiden, dass zwar das Ehepaar, aber keiner der beiden EhepartnerInnen getötet hat, dann müssen wir diesen Vorstoß zurückweisen. Was man allenfalls zugestehen könnte, ist, dass einer von beiden es hätte vermeiden können, zum/zur TöterIn zu werden, nämlich dadurch, dass er oder sie aktiv für die Feuerwappnung des Gebäudes Stellung genommen hätte. Aber selbst dieses Zugeständnis ist anfechtbar, insofern der/die fragliche EhepartnerIn möglicherweise eine Mitverantwortung für die Formulierung der Satzung hat oder die (allerdings wohl kostspielige) Möglichkeit, seine oder ihre Teilhabe an der Firma aufzugeben.
Wer als Gruppenmitglied nicht zum/zur TöterIn werden will, sollte also aktiv dafür Stellung nehmen, dass die Gruppe nicht so handelt, dass sie Menschen tötet oder übermäßiger Lebensgefahr aussetzt. Wieweit jemand dabei gehen muss, ist von Fall zu Fall verschieden und in der Regel kontrovers. Nehmen wir den Fall einer Abgeordneten im Parlament von Bangladeschs. Es reicht nicht, dass sie sich für Verbesserung des Inspektionssystems ausspricht. Es kommt oft vor, dass eine große Mehrheit von AbgeordnetInnen sich für eine wichtige und populäre Maßnahme aussprechen, aber dennoch untätig bleiben, weil sie irgendwie vom Status Quo profitieren. Die Abgeordnete muss so handeln, dass, wenn die Mehrheit der anderen ihrem Beispiel folgte, ein besseres Inspektionssystem dabei herauskäme. Sie muss also etwa an der Formulierung und Einbringung eines geeigneten Gesetzentwurfs (mit-)arbeiten. Wenn sie das tut und dabei scheitert, dann werden die durch schlechte Gesetzgebung verursachten Todesfälle von der Mehrheit der anderen ParlamentarierInnen, nicht aber von ihr, mitverursacht.
5. Schluss
In der heutigen Welt werden viel mehr Menschen getötet, als die Statistik ausweist. Viele sogenannte Unfälle sind Tötungen durch ArbeitgeberInnen, BeamtInnen, PolitikerInnen oder KundInnen, die ihre Garantenpflichten vernachlässigen. Dasselbe gilt von der noch weit größeren Anzahl von Todesfällen durch Luftverschmutzung – 7 Millionen oder 12 Prozent.[9] Weitere Millionen sterben an den Folgen vermeidbarer Armut – an Unterernährung (368,107 im Jahr 2016) zum Beispiel oder an Durchfallerkrankungen (1.655.944), die durch unreines Wasser ausgelöst wurden, oder einfach deshalb, weil sie sich eine ihrer Krankheit angemessene medizinische Behandlung nicht leisten können.
Die große Mehrheit dieser Todesfälle ist vermeidbar. Durch bessere nationale und internationale Gesetze und Institutionen könnten Regierungen schwere Armut, extreme ökonomische Ungleichheit und auch Abgasemissionen eindämmen, ein soziales Sicherheitsnetz für alle Menschen unterhalten und pharmazeutische Innovationen nicht mit Monopolpatenten, sondern so belohnen, dass neue Arzneimittel allgemein erschwinglich sind.[10] Täten sie das, würde viele – wahrscheinlich eine große Mehrheit der heutzutage vorzeitig sterbenden Menschen erheblich länger leben.
Regierungen töten nur dann, wenn sie durch pflichtwidrige Entscheidungen Todesfälle verursachen. Nun haben sie sicherlich die Pflicht, die institutionellen Regelungen ihres eigenen Landes – und auch von ihnen gemeinsam aufrechterhaltene supranationale institutionelle Regelungen – menschenrechtskonform einzurichten, insbesondere so, dass sie dabei das Menschenrecht auf Leben nicht verletzen. Sie verletzen dieses Menschenrecht (und andere), wenn sie fossile Brennstoffe subventionieren,[11] pharmazeutische Monopole gewähren und durchsetzen, die Spielregeln der Wirtschaft von der Finanzelite bestimmen lassen und lebensgefährlich Armut meist nur rhetorisch bekämpfen. Viele AfrikanerInnen werden von ihren korrupten Regierungen getötet – und auch von unseren Regierungen, die jener Korruption Vorschub leisten und für arme AfrikanerInnen höchst nachteilige Weltwirtschaftsregeln durchsetzen.
Auch wir BürgerInnen kommen hier als TöterInnen infrage, dank unserer Garantenstellung gegenüber denen, die von Entscheidungen unserer Regierung betroffen sind. Schließlich handelt unsere Regierung in unserem Namen und Auftrag. Ich entkomme solcher MittöterInnenschaft, wenn meine Regierung aktiv, aber vergebens gegen menschenrechtsverletzende Weltwirtschaftsregeln Stellung nimmt oder ich selbst mich aktiv, aber vergeblich für eine solche aktive Stellungnahme meiner Regierung einsetze.
Die Titelfrage ist nicht so einfach, wie sie aussieht. Sehr viel mehr Todesfälle, als wir gemeinhin annehmen, sind Tötungsfälle; und sehr viel mehr Menschen, als wir gemeinhin annehmen, sind MittöterInnen. Dabei bleibt hier noch offen, wie solche MittöterInnenschaft moralisch einzustufen ist. Klar ist, dass sie gründliches moralisches Nachdenken erfordert.
[1] https://ourworldindata.org/causes-of-death.
[2] An dem Tag, an dem ich diesen Absatz schrieb, kamen bei einem weiteren Großbrand in Dhaka mindestens 69 Menschen ums Leben. Siehe www.spiegel.de/panorama/bangladesch-zahlreiche-tote-bei-brand-in-dhaka-a-1254330.html.
[3] Ich spreche hier und im Folgenden von Arbeiterinnen, weil die große Mehrheit der in der südasiatischen Textilbranche beschäftigten Arbeitskräfte weiblichen Geschlechts sind.
[4] www.exchains.org/info_bangladesch.php.
[5] https://atlas.media.mit.edu/en/profile/country/bgd/.
[6] Das österreichische Strafgesetzbuch spricht von der „Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung“ § 286.
[7] https://cleanclothes.org/.
[8] www.ilo.org/global/standards/lang--en/index.htm.
[9] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/who-7-millionen-tote-im-jahr-wegen-luftverschmutzung-15926316.html.
[10] Siehe www.healthimpactfund.org.
[11] Siehe https://www.imf.org/en/News/Articles/2015/09/28/04/53/sonew070215a.