Karlheinz Wöhler
ZeitRaumBilder und Realitätsverlust:
Anmerkungen zum „mobility turn“
Dass wir uns nicht erst mit digitalen Bildern von den Realitäten entfernen, ist für viele so etwas wie ein Lehrsatz, der immer wieder dort endet, womit sich die Geistes- und Sozialwissenschaften letztlich befassen: Beim Individuum, das durch diese bildlich erzeugte „Realitätskrise“ in eine Identitätskrise gerate.1 Die Ableitung eines solchen Zusammenhanges scheint offenkundig zu sein – Raum und Zeit würden immer mehr relativiert, indem sie sich nach Bildern gestalteten; der daraus resultierende Realitätsverlust der Welt bringe einen Verlust an Sinn, Orientierung, personaler und sozialer Identifikation und Verantwortung und münde bisweilen gar in psychischen Erkrankungen.2 Wer so über die Welt denkt und sie mit diesen Sprachfiguren beschreibt und klassifiziert, der erzeugt selbst eine Realität und grenzt notabene andere Realitäten sowie anderes Denken aus.
Dies ist keine Kritik. Welt ist nun einmal nicht unmittelbar beobacht- und erkennbar. Jedes Denken und jedes heuristische Prinzip macht blind für anderes Denken, das im gleichen Raum und zur gleichen Zeit existiert bzw. existieren kann. Insofern ist von mehreren Realitäten auszugehen, die gegenseitig nicht zugänglich sind, weil eben andere anders denken.3 Zumindest verliert sich mit jedem Denken ein Stück Realität. Und weil das im Wissen abgelagerte Denken Handeln disponiert, entstehen, verändern und tradieren sich Realitäten. Dass daran auch das organisierte Denksystem, die Wissenschaft, beteiligt ist, steht seit Thomas Kuhn für ein breites Publikum außer Frage.4 Mit welchen Konsequenzen für die Konstitution von Realitäten die Kulturwissenschaft Zeitraumbilder produziert, dies soll im Folgenden kurz dargelegt werden.
Zeitgeist oder Mentalitäten sollen hier nicht bemüht werden, um an ihnen zu demonstrieren, wie sich ein Denken, ein ebenso soziales wie subjektives Wissen oder, modern gesprochen, Theorie, in die sozialen und kulturellen Praxen eingräbt. Gebacken werden vielmehr kleinere, wenn auch folgenreiche Brötchen. „Ich denke, also bin ich“ – damit hat Descartes den Körper bzw. den Leib als Erkenntnismedium vertrieben und den Geist zum Weltgestalter inthronisiert und damit zugleich Zeit und Raum deklassiert. Ohne unser leibliches Zur-Welt-Sein ist schlichtweg unsere Realität nicht existent. Dies hindert z.B. Geertz jedoch nicht, den Körper insofern zu vernichten, als er alles ihm Begegnende von Zeichen und damit von der Kultur abhängig denkt bzw. versteht. Solche Vorstellungen, Theorien oder Bilder führen letztlich zur Tradierung und Entmachtung des Körpers (und somit des Individuums), sieht doch Geertz allein Kultur (Bedeutungssystem) als handlungsdeterminierend an, währenddessen er Gesellschaft lediglich als Behälter der Kultur versteht. Die Zeichen sind in den Körper eingegangen und geben ihm seine Verfasstheit.5 „Ich bin ein Zeichen umgeben von Zeichen, also bin ich im Zeichen“ – dies das Erkenntnisprogramm. Kommt nicht Kultur in individuellen und sozialstrukturellen Aktualisierungen, also in zeiträumlichen Verwendungskontexten, zur pragmatischen Bedeutung?
Da sich heute (fast) nirgendwo Kultur in zeitlich und räumlich stillstehenden Kontexten aktualisiert, sondern alles und alle in Bewegung sind, wird das postmoderne Bild eines achronischen und atopischen Menschen entworfen, auf dessen Fersen sich nicht zuletzt die Ethnologie heftet.6 Menschen in Bewegung verlieren sich in den Appaduraischen Landschaften, die selbst wieder durch „flows“ in Bewegung gehalten werden. Dies bedeutet, dass diese „flows“ zeiträumlich Gegebenes, wenn nicht liquidieren, so doch aber desavouieren7. Sich in einer Lebenswelt zu bewegen, die von zeiträumlich Gegebenem und Selbstverständlichkeiten (symbolischen Ordnungen und den damit verbundenen Erwartungen einerseits und Institutionen und Sozialstrukturen andererseits) geprägt wird, ist damit obsolet geworden. Der Mensch müsse fortan von einer „nomadischen“ Subjektivität ausgehen, die sich permanent zwischen einem unbestimmten Hier und Dort bewegt, ohne Wurzeln zu schlagen, also ohne je ein sichtbares Ende zu erreichen oder gar eine stabile Richtung einschlagen zu können.8 „Ich bewege mich, also bin ich“, ist demzufolge der epistemologische Zugang zum Individuum. Was in einem Augenblick eine Realität ist, in der sich der Mensch in relativer Übereinstimmung mit der Umwelt wähnt, wird durch Bewegung zerstört, sodass sie ihm verlustig geht. Seine Lebensgeschichte wird zu einer Verlustgeschichte, in dessen Verlauf nichts mehr Realität (und damit Wahrheit) besitzt: Weil man beständig irgendwo unterwegs gewesen ist, sind einem sowohl die jeweiligen zeiträumlichen Gegebenheiten als auch die Lebenskonstanten abhanden gekommen. Eine permanente Kontingenzerfahrung ist die einzige Beständigkeit im Leben.9
Diese zeit- und ortlose Motilität ist strukturhomolog zu den Zeichen. Zeichen kennen keine zeitlichen und räumlichen Beschränkungen. Sie überstehen jegliche Kontextwechsel und stehen daher, wo auch immer, für je aktuelle Kontexte zur Verfügung. Für einen „mobility turn“, also einem Denken, wonach die Selbst- und Welterschließung bzw. die Ausbildung personaler und sozialer Identität sowie des Weltbezugs unter einer chronischen Temporalisierung des Lebens in atopischen Räumen ein Projekt ist, können mit diesen beiden Dimensionen, Kontext und Zeichen, Fragen gestellt werden. Geht man mit Geertz davon aus, dass Menschen in symbolischen Systemen verwurzelt sind und diese die Gesellschaft bestimmen, aus der heraus dann die Interpretationen der Welt und des Selbst gelernt, distribuiert und verfestigt werden, dann ist die Wahrnehmung des Dortigen von diesem Hiesigen vollends kontaminiert. Die im Geist und Körper eingeschriebene Kultur übersteht einen Kontextwechsel vom Hier zum Dort und wird Dort durchgehalten bzw. aktualisiert. Reisende, Expatriats, Zweitwohnbesitzende, Migranten, Pendler (wer pendelt nicht zwischen Arbeits- oder Berufsausbildungsplatz und Wohnsitz?), ArbeitnehmerInnen in prekären Beschäftigungsverhältnissen (häufiger, wenn nicht beständiger Wohnort- und/oder Arbeitsplatzwechsel) und letztlich wir postmodernen Menschen im Alltag (Bewegungen zwischen Arbeits-, Freizeits- und Obligationssphären, Verlassen und Eingehen neuer Partnerschaften) sind zwar permanent genötigt, die durch Bewegung bzw. Kontextwechsel hervorgerufenen Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Was diese Relaitäten jedoch anzeigen, auf welche Bedeutungen sie hinweisen, wird mit Zeichen verifiziert, die dem jeweiligen, nicht anwesenden Hier entstammen.
Die Konsequenzen des Geertzschen Denkens liegen auf der Hand. Aus Multilokalität resultiert noch lange keine Multikulturalität in dem Sinne, dass Multilokalität einen multioptionalen „movement-space“ konstituiert, in dem Menschen ein „neues“ Bewusstsein und Subjektivität durch kulturelles Patchworking (Hybridität) erlangen.10 Stattdessen tritt ein „Realitätsverlust“ ein: Die Tatsachen im „Bewegungsraum“ beanspruchen zwar einen Realitätscharakter, doch es wird nur das Realität, was das je kulturgeprägte Zeichensystem bestätigt. Im Grunde kann eine Kulturwissenschaft nichts gegen eine solche Mobilisierung der kulturellen Reserve angesichts anderer Kontexte einwenden, wenn sie das Herauslösen von Menschen und Gegenständen aus ihrem authentischen sozio-kulturellen und historischen Umfeld kritisch reklamiert.11 Das Pochen auf eine sozio-kulturelle und historische Authentizität deavouiert sich aber, wenn andererseits eine Ghettoisierung bzw. Abschottung gegenüber anderen beanstandet wird. Dass Kultur (Zeichensystem) einen Ort hat, von dem sich der Nahraum vom Umraum und damit Relevantes von Irrelevantem unterscheidet, der also dem Geertzschen Bild von Kultur entspricht, widerspricht der postmodernen Vorstellung, wonach sich, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, das Hier (Lokales) mit dem Dort (Globales, Anderes, Fremdes) in Dritten Räumen hybridisieren bzw. glokalisieren müsse. Solche Denkfiguren sind nicht allein wissenschaftlichen Diskursen vorbehalten, sondern sie werden ökonomisch mit dem Effekt transformiert, dass nicht nur Kultur kommodifiziert, sondern all das, was nicht dynamisch und beweglich ist, als traditionell gebrandmarkt wird.12
Dass eine Allbeweglichkeit und Allbewegung der Gesellschaft eine enträumlichte und entzeitlichte Vergesellschaftung bedingt, steht außer Frage. „Ich bewege mich, also bin ich“, beschreibt eine Erfahrung der Freisetzung des Menschen aus traditionellen Strukturen, einer Erfahrung der Entbettung, bei der der Verlust von herkömmlichen zeiträumlichen Sicherheiten und Verlässlichkeiten durch eine Erfahrung der Wirklichkeit als ein sich entfaltender, von lokalen Bindungen entleerter Gestaltungsraum kompensiert wird.13 Mobilität wird damit (theoretisch) positiviert. Kann jeder die sich bietenden Chancen der Loslösung von raumzeitlichen Bindungen ergreifen?
Will man diese Frage mit den starren Denkfiguren bzw. Bildern der Konstitution von Kultur gemäß Geertz oder auch Bourdieu beantworten, dann kann nur eine physische, aber keine sozio-kulturelle Mobilität diagnostiziert werden – Kulturen sind in Bewegung, doch die kulturellen Normengefüge bleiben fest an den Orten der Kulturen gebunden: Menschen bleiben sich andernorts kulturell authentisch oder sie verlassen nicht ihren Heimatraum, da das soziale Kapital territorial gebunden ist und es darüber entscheidet, ob sich ein kulturelles Leben entwickelt.14 Verlassen sie dennoch etwa als Migranten, Expatriots oder Second-home-owners ihr Hier, dann liegt ihr kulturelles Kapital (geteilte Deutungsmuster, symbolische und sprachliche Zeichen) aufgrund der nicht gegebenen sozialräumlichen Einbettung für Andere brach. Es kommt zu keiner Mixtur der Kulturen, sondern zu Parallelgesellschaften mit je eigenen Kulturen, wodurch das Handeln mit den Gegebenheiten der realen Welt nicht in Einklang gebracht wird.
In diesem Fall lässt sich aus der Sicht derjenigen, die den Raum-Zeit-Selbstverständlichkeiten folgen, ein Realitätsverlust diagnostizieren. Hält die Kulturwissenschaft an Authentizität als humane wie analytische Kategorie fest, dann muss unter den Bedingungen der allseitigen und allzeitlichen Mobilität bedacht werden, dass Authentizität auch als ein Exklusionsmechanismus operiert: Hier mag man mit sich und der Welt identisch sein, doch Dort ist man für die Anderen inauthentisch. Wenn sich das Bild einer sich bewegenden, flüchtigen und uneindeutigen Postmoderne festsetzt, wonach sich Zeiten und Räume voneinander lösen und damit als Erfahrungskategorien verschwinden, dann geraten auch wissenschaftliche Kategorien in Bewegung. Pluralität der Identitäten mag eine angemessene Kategorie für eine „dynamische Kultur“ der Postmoderne sein. Doch was sagt dieses Bild über die Spannung zwischen Anpassung und essentieller Kontinuität aus? Löst sie sich beim Unterwegssein von Hier nach Dort auf? Eine Antwort darauf muss im multiplen Hier und Dort gegeben werden, bleibt sie doch sonst im Achronischen und Atopischen. Eine Diaspora-Lösung derart, dass man sich dem raumzeitlichen Lebensstil anpasst und dem Heimatland nur noch nostalgisch anhängt, ohne sich daran zu orientieren, stößt sich an dem Verlangen anderer Diasporagemeinschaften, ihre angestammte Identität auch authentisch repräsentieren zu können.15 Die Präsenz dieser Abwesenheit kann durch Rituale fernab der realen Raumzeitstrukturen, meistens Zuhause und/oder an speziellen Orten, hergestellt werden. Ansonsten integriert man sich loyal in die Welt der Majorität. Ob damit einer anderen Denkfigur entsprochen wird, der universellen Bewahrung des immateriellen Kulturerbes auch im partikularen Raumzeitgefüge des changierenden Hier und Dort, dies kann nur dann bejaht werden, wenn dem Kontext keine bzw. nur eine geringe, den Zeichen aber eine essentielle Rolle zugeschrieben wird: Unbeachtet der soziostrukturellen Realitäten, etwa des Arbeitsplatzes oder des Schulsystems, setzt man mit seinem kulturerblichen Habitus ein Zeichen und verweigert sich damit diesen Realitäten. Die partikulare Kultur bzw. Authentizität wäre in diesem Fall nicht in der Gesellschaft aufgehoben, die statt mit Sozialintegration mit Systemintegration operiert. Systemintegration ist schließlich eine wesentliche Bedingung der mobilen Gesellschaft.
Sich mit den soziostrukturellen Realitäten zu befassen, ist nicht gerade das Lieblingsgeschäft der Kulturwissenschaft. Eine entzeitlichte und enträumlichte Vergesellschaftung, die gerade durch die mobilitätsbedingte Auflösung von Zeit und Raum gefordert ist – nichts ist von Dauer und alles besitzt eine Weite bzw. Streuung –, wird allein durch ein „management meaning“ für möglich gehalten.16 Danach ist eine Verortung durch eine Rekalibrierung der Zeit und des Raumes die leichteste Aufgabe, kann doch aufgrund der Vielfalt und Uneindeutigkeit der ästhetisierten Welt jeder zum Bedeutungsingenieur mutieren und sich auf diese Weise seinen Ort erschaffen (genauer: durch Zeichensetzung erfinden). Sind dies kompensatorische „Gegenorte“ zu den Zeiten und Orten der Institutionen und Systeme mit ihren geregelten Abläufen und Verfahren? Sichern sie die Sinnzusammenbrüche, die aus der Diskrepanz zwischen den Systemzeiten und den sozialen Zeiten des gelebten Alltags entstehen?17 In diesem Sinne ist der mobile Mensch ein „alter“ Nomade: Er ist permanent unterwegs und weiß, dass all dieses Unterwegs-Sein ein Ziel hat – sein ästhetisch konstruiertes Zuhause, das durchaus aus dem flottierenden Zeichenrepertoire Dortiges (Mediterranes, Indisches, Japanisches, Afrikanisches etc.) enthalten kann. Quod erat demonstrandum: Im Multikulturellen bildet sich Multilokales ab, das sich im Lokalen repräsentiert. Doch diese Domestifizierung der Früchte der Mobilität ist kein neues Phänomen.
Dass man sich den raumzeitlichen Entbettungsprozessen und den daraus resultierenden De-Kontextualisierungen verweigert, einerseits den Kontingenzen trotzt und sie andererseits als Möglichkeit nutzt, und dass man sich bewusst selbstmarginalisiert, rückt beispielsweise Ghettos in ein neues Licht und verleiht ihnen den Status eines Raumes postmoderner Identitätsbildung. Statt aus den Tatsachen des „Jedermann“ der Majorität, also aus den temporalisierten Erfahrungen mit den Systemen irgendwo, Identität zu erlangen, wird die Schwelle des „majorativen Standards“ überschritten: Man bleibt zum einen bei sich unter Seinesgleichen und variiert zum anderen Elemente anderer Minoritäten für sich. Solches „minoritäre Werden als universelle Gestalt des Bewusstseins heißt Autonmie.“18 Damit wird ein anderer Umgang mit der fluiden oder liquiden Postmoderne demonstriert – eine Re-Territorialisierung und Rückgewinnung der Zeit hinter dem Alltäglichen. Man entzieht sich autonom den postmodernen Zumutungen und erklärt sich altmodisch befangen mit Räumen der Orte und gebunden an das Dauerhafte. Dauerhaft ist die sich bietende Varietät und raumgebunden ist der Selbstausschluss von der Majorität. Gewissermaßen ist man woanders selbstbestimmt Daheim. Trifft dies nicht auch für einen Großteil der mobilen Menschen zu, die mit der mobilen Technik der Vergleichzeitlichung und der Enträumlichung – Handy, Email, SMS, MMS-Postkarten, digitale Kamera – dort sind und zugleich auch hier (zuhause)?19 Ist es nicht eine Pointe der Mobilität unter postmodernen Bedingungen, dass man gar nicht woanders und unterwegs, sondern stets Zuhause oder mit dem Zuhause verbunden ist? Die Möglichkeit, zugleich Hier und Dort, aber auch beim Unterwegs-Sein sowohl Hier als auch Dort zu sein, ist dies nicht der (erlösende) postmoderne Clou einer „atopischen Beheimatung“?
Diese Fragen beantwortet die Formation transnationaler sozialer Räume.20 Die Identitätsbildung von Migranten ist von der lokalen Matrix sozialer Beziehungen abgekoppelt. Sie erfolgt und stabilisiert sich über transnationale Netzwerke, global integrierte Netzwerke, die mittels dieser mobilen Techniken soziale Beziehungen zu den ethnischen Angehörigen sicherstellen und somit eine soziokulturell-territoriale Verbundenheit auf Dauer stellen. Diese Verbindungen heben zweifelsohne zeiträumliche Beschränkungen auf, ohne dass das jeweilige kulturelle Normengefüge erodiert. Am Beispiel des asiatischen Raumes kann gezeigt werden, dass bei Beibehaltung der sozialen Bindungen qua Netzwerk und des kulturellen Kapitals die Immobilitäten des Fremdraumes bestens genutzt werden können: Man vertäut sich an den fixen Strukturen und Infrastrukturen der Systeme – des Marktes, der Ökonomie und an den Institutionen der Zeit.21 Damit wird ein blinder Fleck des „mobility turn“ benannt. Nicht alles ist in Bewegung und flüchtig, sondern Bewegung beruht stets auf feststehenden, rigiden und stabilen Systemen, die eben kraft Mobilität angeeignet werden können.22 Man hätte es wissen müssen, beruhen doch die Repräsentationen des Raumes auf materiellen Verräumlichungen, die sich nicht in Symbole, Zeichen oder Kultur auflösen bzw. verflüssigen.23
Ist diese Außerachtlassung der Dinge, der materiellen Kultur, ein Realitätsverlust? Und wo bleibt der Körper? Verweigert er sich der Mobilität? Körper haben ein Ort; er kann in der Bewegung den Kontext wechseln; der Sinnesapparat bleibt auf den jeweiligen Raum abgestellt. Steht die permanente Bewegung im Widerspruch zu unserem Körper und bestätigt er, was ihm die Zeichen der tachogenen Welt sagen? Verweist nicht Mobilität an sich auf den Körper und auf den Leib? Ist der „body turn“ überholt?
Die Kulturwissenschaft, zumal die Ethnologie, muss sich bewusst sein, dass sie mit RaumZeitBildern arbeitet, abgelagert beispielsweise in den Kategorien Authentizität, Zeichen und Kontext, eine Wirklichkeit schafft, die schwerlich und nicht widerspruchsfrei mit sich abzeichnenden Konsequenzen der Mobilität in Einklang zu bringen ist. Der „mobility turn“, soll er nicht in eine Krise der Repräsentation münden, wird wohl die Kultur der Kulturwissenschaft selbst dynamisieren (müssen).
Anmerkungen
1 Siehe hierzu Hans Belting: Bild-Anthropologie. München 2001, S. 87ff.
2 Dass heute virtuelle Bild-Welten Vorlagen für gesellschaftliche Realitäten abgeben, siehe hierzu Achim Bühl: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyperspace. Opladen 1997. Zur Kritik siehe nach wie vor Anton Kolb/Reinhold Esterbauer/Hans-Walter Ruckenbauer (Hg.): Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten Welt. Stuttgart 1998. Ein mittelalterliches Bilderverbot wird aber nicht erteilt!
3 Philosophische und wissenssoziologische Fragen und nicht endende Diskurse verbergen sich hier. Statt vieler Hinweise sei auf die „doppelte Kontingenz“ verwiesen: Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1984, S. 148ff.; kurz: verschiedene Menschen können Unterschiedliches auf unterschiedliche Weise denken und unterschiedliche Konsequenzen daraus ziehen. Dass dadurch unterschiedliche Realitäten konstruiert werden, liegt auf der Hand.
4 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main 1967. Dass die Produkte der Wissenschaft (Denken/Wissen) kontextspezifische Konstruktionen sind, siehe dazu Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt am Main 1984.
5 Vgl. Glifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kulturelle Systeme. Franfurt am Main 1983; die Anmerkung 22 auf Seite 165 spricht für sich. Zur „Behältertheorie“ der Kultur siehe explizit S. 260.
6 Vgl. Gisela Welz: Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitätsdruck, in: Zeitschrift für Volkskunde, 94 (1998), S. 177-194; Johanna Rolshoven: Woanders daheim. Kulturwissenschaftliche Ansätze im Spannungsfeld multilokaler Lebensweise in der Spätmoderne, in: Zeitschrift für Volkskunde 102 (2006), S. 179-194; Romana Lenz: „Hotel Royal“ – Ferienlager und Abschiebelager, in: Kuckuck, 22, H. 2 (2007), S. 19-23. Bewegung in ihrer postmodernen Form, Beschleunigung in Relation zum Raum und Zeit analysiert eindrucksvoll Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main 2005.
7 Zu den Landschaften/“Scapes“ siehe Arjun Appadurai: Modernity at Large. Minneapolis 1996, S. 33ff.; zu den „Flows“/Strömen siehe Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001, S. 431ff.
8 So Zygmunt Bauman: Ansichten der Postmoderne. Hamburg 1995; S. 228f.
9 Zu diesem Bild postmodernen Lebens siehe neuerdings Zygmunt Baumann: Leben in der flüchtigen Moderne. Frankfurt am Main 2007.
10 Nigel Thrift: Movement-Space: the changing domain of thinking resulting from the development of new kinds of spatial awareness, in: Economy and Society, 33 (2004), S. 582-604.
11 Vgl. in Bezug auf Gegenstände Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn. Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien 1998; hinsichtlich Menschen siehe Richard Butler/Tom Hinch: Tourism and Indigenous People. New York 2007. Auch bei der Vergegenwärtigung des Kulturerbes werden Zeichen aus dem authentisch-historischen Kontext „befreit“; vgl. hierzu Anja Saretzki: Postmoderne Mutationen. Aktualisierung des Kulturerbes als Entortung, in: Kurt Luger/Karlheinz Wöhler (Hg.): Welterbe und Tourismus. Innsbruck 2008 (im Erscheinen).
12 Vgl. Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Bielefeld 2005.
13 Dieses Denkschema entstammt Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main 1995, S. 33ff.
14 Habitus bleibt Habitus, wenn er auf den Kapitalsorten beruht; vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomische Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183-198.
15 Vgl. Timothy Coles: Tourism, Diaspora and Space: Travels to Promised Lands. London/New York 2004.
16 Siehe Ulf Hannerz: Transnational Connections: Culture, People, Places. London/New York 1996, S. 103.
17 So genannten „Dritte Orten“ fällt diese Funktion zu; vgl. Karlheinz Wöhler: Raumkonsum als Produktion von Orten, in: Kai-Uwe Hellmann/Guido Zurstiege (Hg.): Räume des Konsums. Wiesbaden 2008, S. 69-86, S.79ff.
18 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Gilles: Tausend Plateaus. Berlin, 6. Aufl. 2005, S. 148.
19 Siehe Naomi Rosh White/Peter B. White: Home and Away. Tourists in a Connected World, in: Annals of Tourism Reserach, 34 (2007), S. 88-104.
20 Vgl. Ludger Pries: Internationale Migration. Bielefeld 2001.
21 Vgl. Aiwa Ong: Flexible Staatsbürgerschaften. Frankfurt am Main 2005.
22 Zu diese Rückbindung siehe John Urry: Global Complexity. Cambridge 2003.
23 So bekanntlich Henri Lefèbvre: La production de l’espace, 4. Aufl. Paris 2000 S. 304ff.