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Cover der Untergrundausgabe

Robin Klengel
Leere Hallen
Nicht-Ort, Dead Mall, Möglichkeitsraum – Beobachtungen in der Grazer Annenpassage
 
Prolog
 
Langsam und stetig befördert mich die Rolltreppe abwärts in die Passage. Es ist dieser spezielle, undefinierbare Geruch von Verbrauchtheit, der mir entgegenströmt und der, vermischt mit dem gelblichen, elektrischen Licht der Atmosphäre des Ortes einen schummrigen Beigeschmack gibt. Unten erwartet mich ein langer, niedrig wirkender Gang, vielleicht 100 Meter lang, beiderseitig mit Geschäften umsäumt. Es ist wenig los. Vereinzelte Personen bewegen sich über den graubraunen Marmorboden. Die leerstehenden Lokale sind in der letzten Zeit noch zahlreicher geworden. Rechts den Ein-Euro-Shop gibt es noch, in einem Modegeschäft auf der anderen Seite hängen riesige, selbstgezeichnete Abverkaufsschilder in der Auslage. Die Brot-vom-Vortag-Bäckerei neben dem Videospiel-Gebrauchtwarenhändler hat erst kürzlich zugemacht. 
Bei der Abzweigung folge ich dem Korridor nach rechts bis zu einem dreistöckigen Atrium. Hier bin ich ganz alleine, nur die Rolltreppen laufen im Dauerbetrieb. Sie mahlen vor sich hin, nur für sich selbst. Ihr gleichmäßiges Rauschen untermalt die Leere. Aus Lautsprechern ertönt 90er-Jahre-Popmusik, die im Raum widerhallt. Hinter den Rolltreppen im Erdgeschoss verbirgt sich ein Piercing-Studio, etwas weiter links der Hintereingang eines Wettcafés. KundInnen sind keine in Sicht. Seit Kurzem hat auch der kleine Friseur im Untergeschoss zugemacht. In den vielen Spiegeln reflektiert sich die Leere.
Dies ist kein Einkaufszentrum mehr, dies ist etwas Anderes.
 
Einleitung
 
Was passiert, wenn eine Shopping Mall „stirbt“? Wer füllt den Leerraum, wenn einer jener Räume seine Funktion verliert, die nach Marc Augé „Nicht-Orte“ genannt werden und die von einer artifiziellen Glattheit, Flüchtigkeit und inszenierten Ordentlichkeit bestimmt sind? Für wen wird dieser Freiraum ein Möglichkeitsraum und wem bleibt er vorenthalten?
Die Annenpassage ist ein kleineres Einkaufszentrum zwischen dem Grazer Hauptbahnhof und der nächsten Straßenbahnstation. Es handelt sich um eine jener eher heruntergekommenen, manchmal zu „Problemzonen“ erklärten Untergrundpassagen, wie sie in verschiedenen mitteleuropäischen Städten meist in Nachbarschaft von U-Bahnstationen oder Bahnhöfen anzutreffen sind. Der beispielhafte, stufenweise Niedergang der Annenpassage von einem Pionierprojekt der postmodernen Konskumkultur der Stadt zu einer im öffentlichen Diskurs problematisierten Zone ist im Kontext einer langfristigen Abwertung des Bahnhofsviertels sowie Veränderungen des allgemeinen Konsumverhaltens zu sehen. Seit ihrem Bau 1986 verlor die Passage nach und nach an Glanz und die renommierten Geschäfte und bekannten Ketten wanderten immer weiter ab. Im Laufe der Jahre füllten Läden des Billigpreissegments diesen Platz oder die Geschäftslokale blieben leer. Ab dem Jahr 2000 erlebte die Stadt Graz einen wahren Shopping-Center-Bauboom und der Wettkampf unter den Einkaufszentren verschärfte sich markant. Das Wegziehen des größten Elektrogeschäfts in ein anderes Center veränderte die Struktur der Passage tiefgehend. Nach Fertigstellung des Umbaus des Grazer Hauptbahnhofs fiel schließlich Ende 2012 auch jene Verbindungsfunktion zwischen der Eisenbahn und dem Nahverkehrssystems weg, welche die Passage mit einem Strom an KundInnen versorgte. Sie ist seither noch stärker ausgestorben und ihre Zukunft ist ungewiss. Geschäfte gibt es im Wesentlichen überhaupt nur mehr im passagenartigen Teil des Zentrums, jener ehemaligen Verbindungsstraße. Dieser Text konzentriert sich aber auf jenen Trakt rund um das ehemalige Elektrogeschäft, welcher eher dem Konzept der Shopping Mall als dem der Passage entsprach, und welcher einst neben vielen kleinen Geschäften auch zwei Cafés beheimatete. Heute ist dieser in verblüffender Weise verlassen: ein riesengroßer, entvölkerter „Blinddarm“. Einzig ein Piercing-Studio und ein Wettcafé hielten sich in den leeren Hallen.
An dieser Stelle setzt der Text an. Er fragt nach der alternativen Verwendung dieses frei gewordenen Ortes: Wofür wird der neue Leerraum genützt? Wer sind die AkteurInnen, die sich dieses Vakuum aneignen? Oder ist eine alternative Verwendung eines so glatten Ortes, der nach wie vor kontrolliert, reglementiert und überwacht wird, gar nicht wirklich möglich?
In einem Zeitraum von über einem Jahr verbrachte ich in drei Etappen zahllose Stunden in dem leeren Gebäudeteil und wartete darauf, dass jemand kommt und sich den Ort zu Nutze macht: Die meiste Zeit war ich alleine.
Doch der Leerraum war nicht immer leer. Ich traf auf Menschen, beobachtete Handlungen und Praxen; ich lernte Akteur­Innen kennen, führte Gespräche mit PassantInnen, Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, mit Reinigungskräften, Spielern und jugendlichen Mall Rats1.
 
Die Annenpassage als Nicht-Ort
 
Der französische Ethnologe Marc Augé erschuf mit seinem Konzept des „Nicht-Orts“2 einen kulturwissenschaftlich häufig rezipierten Begriff, um Räume wie diesem näherzukommen. Ein Nicht-Ort ist für ihn ein Raum ohne Identität, der weder historisch verwurzelt ist, noch mit den Individuen wirklich interagiert. Sämtliche Transiträume sind für Augé Nicht-Orte genauso wie Gebäude, die ausschließlich für Freizeit- oder Konsumzwecke konzipiert sind.
Eine Untergrundeinkaufspassage ist sogar im doppelten Sinn ein Beispiel eines Nicht-Orts: Sie wird als Konsumraum angelegt, gleichzeitig ist sie aber auch ein ephemerer Transitort, den die PassantInnen nur flüchtig, quasi im Vorbeigehen wahrnehmen. Interessant ist dieser Ort aber, weil er eben nicht funktioniert. Es handelt sich somit um einen Nicht-Ort, der seinem übergeordneten Zweck nicht mehr dienlich ist, um einen dysfunktionalen Nicht-Ort. Dieser leere, ungenutzte, vielleicht „unnötige“ Raum ist gerade in dem ansonsten so straff strategisch-kommerziell durchkonzipierten Raum einer Shopping Mall ein Widerspruch und eine Seltenheit.
 
Die Drastik der Leere. Die Dead Mall als gescheitertes Narrativ
 
Der Terminus der „Dead Mall“, also der (aus)gestorbenen Shopping Mall3 ist in Nordamerika mittlerweile ein Begriff der Alltagssprache. Oftmals sind es riesige, verlassene Monumente, bizarre Relikte des postmodernen Konsums.
Rund um das Thema der Dead Malls hat sich in den Vereinigten Staaten eine Bewegung gebildet, die das Sterben der Malls im Internet dokumentiert und es gibt zahllose Blogs und Fotostrecken.4 Es lässt sich nicht bestreiten, dass das Bild des Zerfalls dieser einst hochpolierten und heute verlassenen Orte eine starke Ausdruckskraft besitzt. Tim Simpson schreibt: „[A]s it is emptied of people, shops, and merchandise, the […] space is filled up with meaning, offering its own ironic, unmotivated critique of consumerism. In some ways the dying mall is the most revealing of the culture of capitalism“5.
Dies ist auch am Beispiel der Grazer Annenpassage zu erkennen, denn selbst hier zeigt sich die Kultur des Konsums in einer verblüffenden Drastik. Mehrmals beobachtete ich Menschen, die sich verwundert umblickten, als sie den ausgestorbenen Raum betraten und ob der eindrucksvollen, polierten Leere merkbar zu staunen begannen.
Diese Hallen, die einst so besetzt waren vom Narrativ des Shopping Paradieses, vom Mythos des glücklichen Konsums, haben heute etwas schockierend Nacktes. Was Jürgen Hasse über verlassene und verfallende Parkhäuser schreibt, trifft sehr gut auch auf Dead Malls zu. Er bezieht sich hierbei auf Michel Foucaults Konzept der Heterotopie, genauer auf das der Illusionsheterotopie6. Er schreibt: „Eine Heterotopie, die ‚umkippt‘, wie ein eutrophierendes Gewässer, konfrontiert eine Gesellschaft mit ihrem eigenen Schatten“7. Wenn also die Mythen, die das kulturelle Szenario einer Shopping Mall bestimmen, nicht mehr aufrechterhalten werden können, sieht man die unverblümte Rückseite des Konsums. Plötzlich werden vorher überdeckte Wirklichkeiten sichtbar. Gleichzeitig kann an diesem Ort vielleicht etwas Neues entstehen, was an Beispielen nordamerikanischer Dead Malls deutlich wird, welche teilweise umgewidmet und öffentlichen Zwecken zugeführt werden.
 
Zur Methodik der Beobachtung 
von Leere: der Forscher als lauernder Voyeur
 
Eine teilnehmende Beobachtung in einem meist leerstehenden Raum durchzuführen ist sehr speziell, da man den hier stattfindenden Praxen buchstäblich auflauern muss. Bereits zu Anfang meiner Forschung wurde mir klar, dass ich besonders viel Zeit an diesem Ort verbringen werden müsse, um herauszufinden, was beziehungsweise ob überhaupt irgendetwas hier passiert.
Insgesamt besuchte ich den Ort in drei Forschungsabschnitten über einen Zeitraum von mehr als anderthalb Jahren zwischen Winter 2011 und Frühjahr 2013, was mir erlaubte, einen Teil der Niedergangsgeschichte der Annenpassage mitzuerleben. Um die Zeiten mit der größten Aneignungsdichte herauszufinden, erkundete ich den Ort an möglichst unterschiedlichen Tageszeiten und Wochentagen. Die Länge meiner Aufenthalte betrug zwischen 30 Minuten und 14 Stunden, je nachdem ob im Raum „viel“ los war – oder eben gar nichts. Nach einigen Stunden des Wartens freut man sich wirklich über jede Form der Begegnung. Alles in allem waren es etliche einsamen Stunden, die ich in diesen Hallen verbrachte. Daher lud ich gelegentlich Freunde an „meinen Ort“ ein, verbrachte dort einige Zeit lesend oder telefonierend, eignete mir den Raum also gewissermaßen selbst an. Der lauernde Kulturanthropologe gehört also selbst schon zum Setting das er erforschen möchte.
Durch meine Beobachterrolle befand ich mich manchmal in der unangenehmen Position eines Voyeurs von privaten Begegnungen und intimen Situationen, weswegen ich mich um möglichst große Offenheit meinen GesprächspartnerInnen gegenüber bemühte.
 
Aneignungen
 
Im folgenden Abschnitt will ich mehrere von mir beobachtete Raumaneignungen vorerst unkommentiert darlegen. Sie geben lediglich beispielhaft und etwas fragmentarisch einen unmittelbaren Eindruck von den verschiedenen Arten der Aneignung im leeren Raum in der Annenpassage und besitzen noch den sprachlichen Duktus meiner Feldnotizen.
23.11.2012, Mittwoch, etwa 17:30
Zwei Mädchen im Teenager-Alter begutachten ihre Beute: Ohrklipper. Im Leerraum hinter der Bude des ehemaligen Cafés im Erdgeschoss zeigen sie sich gegenseitig, was sie eingekauft haben. Sie begutachten sich in den Spiegeln der leeren Geschäftslokale, machen sich schön. Sie lachen. Es ist so etwas wie eine kleine Modenschau, die sie hier für einander veranstalten. Sie haben Spaß, diesen Ort für eine kurze Zeit zu einem  Laufsteg zu machen. Die Szene hat etwas Heimliches, Verstecktes, Intimes und der Forscher fühlt sich als Voyeur dieses kindlichen Spiels.
20.12.2012, Dienstag, etwa 15:00
Unten an der leeren Bude stehen ein Junge im Skater-Outfit und ein Mädchen in einer weißen Jacke mit einem Kragen aus künstlichem Pelz. Sie nutzen die Leere und Ruhe des Raumes, lehnen an der Theke, tratschen. Der Junge gestikuliert sehr, spielt Szenen nach, erhebt die Hände ausladend, nimmt ihre Hand. Er ist unruhig und häufig wechselt er Stand- und Spielbein. Sie beobachtet sein Spiel und steht ganz ruhig, mit überkreuzten Beinen da. Von Zeit zu Zeit holt einer der beiden das Mobiltelefon aus der Tasche und begutachtet es, mitunter auch beide gleichzeitig. Dennoch ist die Unterhaltung sehr lustig und lautstark, es wird viel gelacht und gekichert.
Etwas später stehen die jungen Leute immer noch da, jetzt näher beisammen. Weiterhin interagieren sie sehr lebhaft. Häufig halten sie sich an den Händen, sie flirten.
25.1.12, Mittwoch, etwa 13:00
Ein blonde Frau Mitte 40, fein gekleidet, spaziert im Raum umher. Sie trägt eine Tüte mit dem Logo einer ansässigen Bäckerei darauf, aus dem sie sich bedient. Ich spreche sie an. Ihre Ausdrucksweise verrät eine Herkunft aus einem sozial hoch gestellten Milieu. Die Frau erzählt mir, sie sei am Warten auf ihren Mann, der gerade einen Zahnarztbesuch absolviere. Sie finde es schrecklich hier. Wenn sie nicht warten müsse, sie wäre nie im Leben freiwillig an diesem Ort. Nicht einmal Sitzgelegenheiten gäbe es hier, echauffiert sie sich. Sie ermahnt mich, ich solle doch etwa an diesen Umständen ändern.
25.1.12, Mittwoch, etwa 13:30
Ein Mann um die 40 mit abgetragener Kleidung nutzt die verlassene Bar des ehemaligen Cafés, um sich dort eine Zigarette zu drehen. Er erzählt mir, er komme ganz gerne hier her. Jetzt erwarte er einen Freund. Traurig sei es schon hier, vor 20 Jahren wäre viel es schöner gewesen, dafür habe man heute hier seine Ruhe. Es sei angenehm warm und vor allem „Tschuschen-frei“. Die „Securities“ würden schon dafür sorgen, dass sich kein „ausländisches Gesindel“ hier treffe. Er als Österreicher sei freilich noch nie vom Wachdienst behelligt worden, allerdings habe er schon einigen Wegweisungen beigewohnt. Er finde das auch sehr gut und wichtig so. Sonst sei hier bald alles voll mit „Gesindel“, das hier Bier trinken und „abhängen“ würde. Dann wäre es gleich wie am Hauptbahnhof, den er jetzt deswegen meide und stattdessen lieber hierher komme. Die Offenheit, mit der der Mann seine Ressentiments äußert verblüfft mich.
14.9.2012, Freitag, etwa 17:00
Eine Gruppe von sechs Mädchen und drei Jungs, alle etwa 15 Jahre alt, mit teils schwarzen, glatten, ins Gesicht hängenden und teils schrill bunt eingefärbten Haaren bleibt vor der Rolltreppe stehen. Sie zeigen sich Dinge auf ihren Mobiltelefonen, betrachten sich in den zahlreichen Spiegeln und machen Fotos von sich. Fast jeden Tag hängen sie hier herum, einige kämen sogar extra mit dem Zug nach Graz um hier sein zu können, wie ich später erfahre.
Am gesprächigsten ist ein schlaksiger Junge mit ins Gesicht hängenden schwarzen Haaren, seine Sprache verrät eine bürgerliche Herkunft, wenn auch mit merkbaren Dialekt. Im Winter seien sie noch in einem anderen, größeren Shopping Center am anderen Ende der Stadt gewesen, erzählt er mir, aber er habe dort „Scheiße gebaut“ und Hausverbot bekommen. Dann sei am Bahnhof ein größerer „Emo-Treff“ entstanden, aber von dort wären sie von einem Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma vertrieben worden. Der Platz sei gut hier, weil viele Leute aus der Gruppe außerhalb von Graz wohnen und mit dem Zug hier ankämen. Man lasse sie in Ruhe und der Raum sei gleich bei dem Piercing-Shop. Als sie sich aufmachen, zeigen sie mir das Peace-Zeichen zum Abschied. „Peace, man!“, rufen sie mir zu.
Plötzlich erscheint eine zweite Gruppe von Jugendlichen. Sie sind etwas älter, ausschließlich männlich und tragen Kurzhaarfrisuren. Sofort sind alle aktiviert und springen auf. Spannungen zwischen den Gruppen sind spürbar, noch bevor das erste Wort fällt. „Scheiß’ Emos!“, rufen die neu Angekommenen durch den Korridor. Die jüngeren feuern zurück und rufen Sätze wie „Danke, ihr schwulen Pisser!“ Die Wogen gehen hoch, auch wenn die beiden Gruppen ca. zwanzig Meter von einander entfernt stehen. Als die zweite Gruppe schließlich weiterzieht, beruhigt sich die Situation schnell wieder.
15.9.2012, Dienstag, 14:10
Zwei zierliche Mädchen aus der Gruppe der „Emos“ betreten den Raum. Ich schätze sie auf etwa 14. Sofort beginnen sie damit, sich in einem der Spiegel anzusehen und mit ihren Smartphones Fotos von sich zu machen. Als sie mich im oberen Stock erblicken, winken sie mir sehr freundlich zu. 
Die Mädchen erfüllen den Raum, sie sind ziemlich laut, scherzen herum, krabbeln durch den Raum, machen Tiergeräusche, lachen laut auf. Zweifelsfrei beeinflusst meine Anwesenheit die Szene.
15.9.2012, Dienstag, etwa 15:00
Ich höre Stimmen und bemerke nach einigem Suchen mehrere jüngere Frauen in Begleitung von einigen Kindern in dem Freiraum hinter dem Lift stehen. Sie unterhalten sich in einer mir unbekannten Sprache mit einer Angestellten, die eine Bekannte oder Verwandte von ihnen zu sein scheint. Die Szene hat etwas Verstecktes, immer wieder kontrolliert die Angestellte den Raum, indem sie sich hinter der Säule hervor beugt und in den Raum blickt. Die Frauen tragen Shirts und knöchellange Röcke, zwei von ihnen schwarze Kopftücher. Sie haben zwei Kinderwägen, einen etwa vierjährigen Jungen und ein noch etwas jüngeres Mädchen dabei. Während die Frauen tratschen, schiebt der Junge das Mädchen mit dem der Kinderwägen wild durch den leeren Raum. 
 
27.2.2013, ca. 13:00
Was ich denn hier zeichne, fragen mich drei Jugendliche, etwa 18 Jahre. Sie schauen mir vom oberen Geschoss aus zu und beugen sich über das Geländer. Ich erkläre ihnen, dass ich die Rolltreppe und die ausgestorbene Architektur skizziere. Es gefällt ihnen. Ich frage sie, was sie gerade tun. „Kiffen“ antworten die drei und lachen. Als ich bei ihnen ankomme, sehe ich, dass der mittlere gerade einen großen Joint dreht. Sie erzählen mir, dass sie zwei bis drei Mal in der Woche herkämen; zum „Chillen“. Draußen sei es eben kalt. Niemand nerve sie hier, außer dem „Security“ vielleicht, der verbiete ihnen drinnen zu rauchen. Einen Joint bauen sei okay, aber Rauchen nicht, es stinke eben. 
Er sei Tischler, also Hilfsarbeiter in einer Tischlerei, erklärt mir der eine. Wie die anderen trägt auch er eine große Baseballmütze, tiefsitzende Jeans und weite Sweater. Der zweite sei Mechaniker, der dritte ist „gar nichts“, wie er sagt. Der Tischler komme gern her, weil hier weniger Ausländer seien. Er sei kein Rassist, aber „die“ möge er nicht. Etwas später durchquert ein junger Schwarzafrikaner den Raum, der Tischler grüßt schon von Fern. Als er oben ankommt, klatschen sie ein, sie tauschen ein paar Worte. Als der Joint dann fertig gedreht ist, fragen sie mich noch einmal, ob ich nicht mitkommen wolle, um mit ihnen zu rauchen. Als ich ablehne verabschieden wir uns.
Später komme ich noch einmal bei ihnen im Erdgeschoss des Atriums vorbei, in das sie zurückgekehrt sind. Es sind nur mehr zwei, der Tischler ist verschwunden. Die anderen beiden rauchen an das Geländer gelehnt.
 
Qualitäten der leeren Hallen
 
Die Vielzahl und Diversität der Aneignungen zeigt, dass der Raum trotz seiner Leere – oder gerade deswegen – für eine erstaunlich große Bandbreite an Menschen einen Teil ihrer Lebensrealität darstellt. Der Raum ist also leer, aber nicht ohne jede soziale Funktion und weist bei genauerer Betrachtung zahlreiche Qualitäten auf.
Zuallererst ist der Ort ein Schutzraum. Er ist warm, sauber, trocken und hell, vor Wind und Regen geschützt  und gut erreichbar. Die Nähe zu gewissen Shops oder dem Supermark ist eine weitere Stärke des Raumes, welcher ja immer noch einer Konsumfunktion dienen kann oder mit dieser in Zusammenhang steht.
Der Sicherheitsdienst sorgt für eine soziale Selektion, was von zwei Gesprächspartnern als ausdrückliche Qualität beschrieben wird. Der „Österreicher“, der sich gerne hier aufhält, weil das „ausländische Gesindel“ von den Sicherheitskräften vertrieben wird, ist ein starkes Beispiel. Er schätzt diesen Raum vor allem deswegen, weil er ihm als Österreicher exklusiv zur Verfügung steht und weil ihm hier die Begegnung mit dem „Fremden“ erspart bleibt. Mehrere GesprächspartnerInnen erzählen mir, dass sie ZeugInnen von Wegweisungen gewesen seien und dass Obdachlose vor allem im Winter versuchen würden, sich in den Winkeln der Mall zu verstecken, jedoch immer wieder wieder vertrieben würden. Gleichzeitig ist der spürbare Grad an Überwachung in diesem Bereich der Passage nicht sehr hoch und man fühlt sich nur selten observiert. Der Ort verfügt also über komplexe Ein- und Ausschlussmechanismen, welche Ähnlichkeiten mit jenen der überwachten Shopping Malls im Sinne eines Ausschlusses von Individuen ohne Kaufkraft aufweisen.
Eine zweite große Qualität des Raumes ist seine Ruhe. Denn gerade durch die Abwesenheit von Menschenmassen wird der Raum als Pausenraum genutzt, sehr häufig auch zum ausgiebigen Telefonieren oder um in Ruhe tratschen oder zu flirten. Ich will ihn einen Rückzugsort nennen, ein Raum, an dem man nicht gestört wird; den man aufsucht, wenn man momentan keinen Kontakt zu Menschen sucht; zum Essen oder Nachdenken. Es ist ein Ort, der Einsamkeit zulässt. Zugleich ist man hier eben auch so alleine, dass man andere nicht so schnell stört und daher laut und wild sein und sich ausprobieren kann. Zweifelsfrei gelten hier lockerere Verhaltensnormen als üblicherweise in einer Shopping Mall. Der Ort erlaubt außerdem eine gewisse Privatsphäre. Er ist ein Raum des Intimen, Verborgenen, Geheimen, ein Ort der klandestinen Handlungen.
Kurz gesagt: Der Ort ist ein multifunktionaler Möglichkeitsraum. Und ich beobachtete zahlreiche Szenen, in denen die architektonische Struktur angeeignet und umgenutzt wurde: Die Rolltreppe wurde zum Spielgerät, die leeren Geschäftsflächen zum Laufsteg, die Spiegel zum Objekt der Selbstinszenierung.
 
Akteure und Akteurinnen
 
Eines ist allen handelnden AkteurInnen gemein: sie haben ein Bedürfnis nach Raum. Augenscheinlich sind es in erster Linie Jugendliche, die diesen Raum nutzen. Es ist auch interessant, dass viele Frauen darunter sind.  Etwas weiter gefasst könnte man sagen, es sind vornehmlich Menschen, die es schwer haben, sich an öffentlichen Orten Raum zu verschaffen. Dies führt direkt in den Diskurs um die Transformation von öffentlichem, halböffentlichem und privatem Raum.
Ein schönes Beispiel dafür sind die „Emos8“, die sich am Bahnhof, also dem eigentlich öffentlichen Raum angesiedelt hatten, vertrieben wurden und sich schließlich hier niederließen (bzw. niederlassen durften). Der Bahnhof ist stärker überwacht und reglementiert als der Raum dieser Untersuchung, welcher sich rechtlich gesehen in privater Hand befindet. Nachdem ich die Gruppe im Sommer kennenlernte, waren sie im darauffolgenden Winter jedoch nicht mehr auffindbar und ob nun doch auch hier eine Wegweisung stattgefunden hatte kann nur gemutmaßt werden. Die Wahl des Ortes war für die „Emos“ jedenfalls eine keineswegs zufällige. Sie wussten sehr genau, warum sie hier waren, und machten sich den Raum zu „ihrem“ Raum, zu einem Orientierungs-, Bezugs- und Treffpunkt. Sie hatten von dem Raum Besitz ergriffen, wie wohl niemand sonst, belebten den Raum und verteidigten ihn sogar gewissermaßen gegen andere Gruppen. 
 
Leere als Problem oder Qualität
 
Die Leere des Raumes wird auf grundlegend unterschiedliche Art und Weise wahrgenommen. Einerseits gibt es einen sehr mächtigen Niedergangsdiskurs, welcher den Raum als heruntergekommen und tot ansieht. Die Leere ist ein Dorn im Auge, sie ist Repräsentation des ökonomischen Verfalls, des sozialen Ruins. Diese Ansicht wird vor allem von den ansässigen Ladenbesitzenden, sowie älteren Personen und StammkundInnen geteilt und spiegelt sich in der lokalen Presse wider.
Dem entgegen steht eine Perspektive, die die Leere als Potenzial, den Leerraum als Möglichkeitsraum begreift. Leere ist ein Vorteil im Sinne der Abwesenheit von offizieller Kultur. Leerräume haben eine Faszination, in ihnen wohnt ein Potenzial, Leere kann die Phantasie anregen. Daher ist es nicht sehr verwunderlich, dass er von der künstlerischen Szene mittlerweile wahrgenommen wird. 
Der Leerraum ist ein Ort mit niedriger Dichte und mit einem Übermaß an verfügbarem Raum, was auf jugendliche offensichtlich eine gewisse Faszination ausübt. In der Entwicklung von Jugendlichen spielt das Verlassen des elterlich geprägten privaten Raumes und das Kennenlernen des öffentlichen Raumes als eigenständige AkteurInnen wichtige Funktionen. Es „zieht“ die jungen Menschen buchstäblich hinaus. Der öffentliche Raum ist jedoch oftmals der Raum der Erwachsenen. „Jugendliche […] finden in Städten immer weniger Räume, die für ihre Zwecke interessant sind, zum einen, weil es diese Räume kaum mehr gibt, zum anderen weil Jugendliche als suspekt oder gar gefährlich gelten und deshalb überwacht, verdrängt und ausgegrenzt werden“9. Jugendliche Gruppen suchen nach neuen Refugien und finden diese oftmals im halböffentlichen Raum, etwa in Shopping Malls. Die Mall ist weder im Einflussbereich der Schule, noch der Eltern, sondern ist für sie ein herrschaftsloser Raum – was ob der objektiven Überwachung und Kontrolle in einer Mall paradox erscheinen mag. Hier hingegen, wo die Ordnung der Shopping Mall zusehends verfiel, entstand ein wirklich aneigenbarer Freiraum für Jugendliche.
 
Nicht-Ort oder Möglichkeitsraum? Ein Resümee
 
Wenn eine Shopping Mall stirbt hinterlässt sie ein kulturelles Setting, das selbst in der faktischen Abwesenheit von Konsum noch von Fragmenten der ökonomischen Funktionsweise geprägt ist. Die Annenpassage veränderte ihren Charakter und ihre gesellschaftliche Funktion durch ihren ökonomischen Niedergang und verwandelte sich zu einer höchst ambivalenten Version des halböffentlichen, halbüberwachten Raumes. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sie sich von einem jener glatten Nicht-Orte zu einem originellen sozialen Mikrokosmos, in dem sich kulturelle Prozesse der postmodernen Urbanität widerspiegeln. Obwohl sie noch von jener kennzeichnenden Glätte geprägt ist, bemerkt man mittlerweile Spuren der Abnützung und des Niedergangs, was mit der Narration einer Mall als Ort der Reinlichkeit inkompatibel ist. Im öffentlichen Diskurs wandelte sie sich von einer mondänen Einkaufspassage zu einer schmuddeligen „Problemzone“. Jene peripheren Räume, an denen die schöne Fassade der hegemonialen, bürgerlichen Kultur zu bröckeln beginnt, sind von besonderer kultureller Aussagekraft. 
Die Untergrundeinkaufspassage als spezielle Spielart des Phänomens Shopping Center ist insofern interessant für weitere kulturanthropologische Auseinandersetzung, als dass sie die Flüchtigkeit eines Zwischenraums mit der postmodernen Konsumkultur verbindet und einen Augéschen „Nicht-Ort“ im doppelten Sinne darstellt. Sie ist Beispiel einer inszenierten Urbanität und trägt indes Zeichen der langfristigen Abnützung, also eine Patina in sich, womit das Vorhandensein von Identität und Historizität des Ortes wohl kaum geleugnet werden kann. Die Annenpassage ist also anthropologischer Ort und Nicht-Ort gleichzeitig und macht deutlich, dass man mit Augés dualer Begrifflichkeit dem Ort wohl kaum gerecht wird. Diese Orte sind keineswegs identitätslos, aber dennoch andersartig und es bräuchte vertiefte, phänomenologische wie empirische Analyse um dieser Andersartigkeit näherzukommen.
Nach allen oben ausgeführten Raumeigenschaften und Qualitäten ist dieser leere Raum als ambivalenter Zwischenraum zu verstehen, an dem gewisse Arten von Raumaneignungen möglich sind: ein Raum der zwar kaum mehr Konsumraum ist, aber auch keinen wirklich offenen Raum zur freien Nutzung darstellt. Die Leere dieses Raumes ist eine Schein-Leere. Denn wenngleich Menschen hier selten anzutreffen sind, so ist der Raum doch immer noch besetzt von dem alten Szenario des Shoppingcenters. Er ist gleichzeitig Möglichkeitsraum, Schutzraum und Exklusivraum: ein Raum im Übergang, geprägt von alten Spielregeln, der dennoch von verschiedenen, jedoch sozial selektierten AkteurInnen unter der nachlassenden Kontrolle des Sicherheitsdienstes genutzt und angeeignet werden kann. 
 
Anmerkungen
 
1 Als „Mall Rats“ werden Jugendliche bezeichnet, die nahezu täglich einen Großteil ihrer freien Zeit in einer Shopping Mall verbringen.
 
2 Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main, 1994.
 
3 Eine „Dead Mall“ muss nicht vollkommen leer stehen. Als Dead Mall gilt i.d.R. ein Shopping Center, welches stark geschwächt ist von nachlassendem Verkauf und zunehmend leerstehende Flächen. Mitunter werden Malls schon als „dead“ bezeichnet, wenn sämtliche „Anker“, also große, KundInnen anziehende Shops weggezogen sind. Insofern handelt es sich bei der Annenpassage also um ein typisches Beispiel einer Dead Mall.
4 So etwa auf der Webseite www.deadmalls.com
 
5 Simpson, Tim: Lazarus, the dead mall and the demise of the city center, in: Jassem, Harvey; Drucker, Susan J.; Burd, Gene (Hg.): Urban communication reader, Volume 2, Chesskill NJ 2010, S. 36.
 
6 Foucault benennt die Heterotopie als „Realität gewordene Utopie“ [S. 39]. Sie ist ein ‚anderer‘ Raum, der andere Spielregeln hat als die wirklichen Orte der Kultur, in dem diese aber „repräsentiert, bestritten und gewendet“ [ebd.] werden. Die Illusionsheterotopie ist eine ‚andere‘ Welt die  „so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, missraten und wirr ist“ [S. 45.] Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Karlheinz Barek et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 – 46.
 
7 Vgl. Hasse, Jürgen: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007. S. 204.
 
8 Die Bezeichnung „Emo“ kommt von der Musikrichtung des „Emotional Hardcore“ und bezeichnet eine damit im weiteren Sinne assoziierte Jugendkultur des 21. Jahrhunderts, die sich stark durch Mode definiert. 
 
9 Gestring, Norbert und Neumann, Ute: Von Mall Rats und Mall Bunnies. Jugendliche in Shopping Malls, in: Wehrheim, Jan (Hg.): Shopping Malls. Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtyps, Wiesbaden 2007,  S. 141.