Michaela Wolf
Übersetzung als "Brücke zwischen den Kulturen"?
Ein Plädoyer für die Sicht von Übersetzung als Beitrag zur Konstruktion von Kulturen
Peter Weibel merkt in einem Interview der Standard-Beilage „Album“ im Rahmen der Diskussion um Originalität, Individualität und Plagiat auf den Begriff des (künstlerischen) Originals bezogen an, dass dieser nur „im Kontext des Eigentumsbegriffs des Bürgerlichen Gesetzbuches“ Sinn hat, also ein Kapitalbegriff sei. Und da – in der Kunst – Vorhandenes stets übernommen und fortgeführt würde, müssten Begriffe wie Kopie, Aneignung, Plagiat demokratischer gesehen werden: In der Kunst gebe es keine grandiose Originalität (Weibel 2006: A2).
Die Parallelen, die hinsichtlich rezent entwickelter Übersetzungsbegriffe zu den Aussagen Weibels gezogen werden können, sind verblüffend: Übersetzung wird da nicht mehr mimetisch als sekundäres Produkt eines sakrosankten Originals angesehen, als reproduktive, weibliche, untergeordnete Variante eines Ausgangstextes, der das männlich Starke und Aktive (Autor/Vater) repräsentiert, sondern als Produkt einer pluridimensionalen Handlung, als ein „nie-endender Transfer zwischen unsicheren Polen kultureller Differenz“ (Bhabha, zit. nach Simon 1997: 475), an dessen Zustandekommen Subjekte beteiligt sind, die, entlang Grenzen wandelnd, die Produktion kultureller Differenz vorantreiben. Die Sicht von Übersetzung als „Brücke zwischen Kulturen“ gerät damit ins Wanken bzw. wird obsolet, findet doch – in Anlehnung an postkoloniale Kulturtheorien – der übersetzerische Transfer zwischen Kulturen statt, die bereits in sich kontaminiert sind.
Eine solche Sichtweise von Übersetzung lenkt den Blick auf Fragestellungen, die das „Übersetzen zwischen Kulturen“ neu zu bestimmen versuchen und den Fokus auf die konstruktionsrelevanten Faktoren von Übersetzung legen. Vor diesem Hintergrund diskutiert der vorliegende Beitrag die Bedingungen, die diesem Konstruktcharakter von Übersetzung zugrunde liegen und thematisiert die Problematik der Repräsentationsformen des Übersetzens, die nicht zuletzt zu einer Infragestellung des Objektbereichs der Translationswissenschaft führen kann.
„’Cultures’ do not hold still for their portraits”
Dieses Zitat von James Clifford (Clifford 1986: 10) steht für ein Kulturkonzept, das den vorliegenden Überlegungen zugrunde liegt. Es impliziert, dass Kulturen nicht als geschlossene Systeme existieren und demnach beim Übersetzen nicht als solche übertragen werden, sie können, wie das Moment des Abbildens oder Porträtierens, lediglich als eine vorübergehende Bestandsaufnahme, die sich nicht festschreiben lässt, gesehen werden. Solche Auffassungen von Kultur wirken essentialistischen Vorstellungen entgegen, die den jeweils wesenhaften, mehrheitlich unveränderlichen und damit a-historischen Charakter von Kultur betonen und Kulturen auf der Basis von Dichotomien wie Fremdes versus Eigenes, oder auch, für vorliegende Belange, Ausgangs- versus Zielpublikum operieren sehen. Eine solche Sicht leistet der grundsätzlichen Trennung und auch mehr oder weniger klaren Unterscheidbarkeit von Kulturen Vorschub und verstellt damit gleichzeitig den Blick auf die jeder Kultur immanenten vielseitigen diskursiven Geschehnisse und Repräsentationen. Wird davon ausgegangen, dass die wechselseitigen Übersetzungsprozesse im „Kontakt zwischen Kulturen“ für die jeweilige Kulturformation mitverantwortlich sind, also grundsätzlich die Zirkulation symbolischer Zeichen im Spiel ist, so kann Kultur vorübergehend mit der Arbeitsdefinition belegt werden, sie sei ein Ort des Widerstreits zwischen Repräsentationen von Subjekten, von Geschichte, von Weltgeschehen, die wiederum aus einem Zusammenwirken vielschichtiger Begegnungen entstanden sind.
Die hier relevanten Aspekte des Offenen und Prozesshaften von Kulturen wird vor allem von Homi Bhabha betont, dem indisch-englischen Kultur- und Literaturwissenschaftler, der die Produktion von Symbolen und Bedeutungszuschreibungen zur Konstitution von Kultur ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt und daraus folgernd Kulturen als permanent stattfindende Praktiken beschreibt: „All cultures are symbol-forming and subject-constituting, interpellative practices“ (Bhabha 1990: 210). Diese Praktiken bergen ein stetes Potential zu Veränderungen in sich und bringen fortlaufend neue Bedeutungen hervor. Wird jedoch in herkömmlicher Weise nach dem „Authentischen“, „Echten“ in Kulturen gesucht, so begegnen uns Subjekte, die vordergründig, in Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen festgebunden, quasi a-historisch in ihnen zuerkannten Rollen agieren. Homi Bhabha geht es darum, Subjekte jedoch gerade nicht auf ethnische oder andere Positionen festzulegen, er betont vielmehr den Bereich der Überschreitung jener divergierenden ethnischen, klassenspezifischen und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, die nur in ihrer „Verknotung“ das individuelle Subjekt ausmachen können. Und dieses Subjekt ist gefordert, über die beschränkenden Identitätsansprüche, die von traditionellen Kulturkonzepten an es gestellt werden, hinauszugehen, ohne diese Erbschaft zu verleugnen oder auch zu verdrängen. Kultur ist somit nicht mehr eine traditions- und identitätssichernde Instanz, sondern ist durch das Zusammenfließen von Prozessen der Sinnzuschreibung und der Mehrfachkodierungen gekennzeichnet.
Dem Kulturkonzept von Homi Bhabha ist das Moment der Begegnung durch Migration eingeschrieben, das kontinuierliche Diskontinuitäten, Brüche und Differenzen hervorruft. Das Ergebnis dieser Berührungen impliziert laut Bhabha hybride Befindlichkeiten, die für Migrationskulturen kennzeichnend sind. Unter Hybridität wird das Ergebnis aus kultureller Begegnung, aus der Berührung von Räumen verstanden, die zur Veränderung aller Beteiligten führt. Das Phänomen der Hybridität beruht auf der Annahme, Kulturen könnten nicht als homogen oder geschlossen angesehen werden, sobald sie im Kontext von „Wesen“ oder „Ort“ diskutiert werden. Wird Hybridität also als Resultat jedweder Begegnung von Kulturen aufgefasst, als Verknüpfung unterschiedlicher diskursiver Praktiken, so erfährt das Kulturkonzept eine zusätzliche Dynamisierung, durch die alle Beteiligten eine Veränderung erfahren. Edward Said meint, dass an der Konstitution aller Kulturen viel Erfundenes beteiligt sei, das auch in die ständige Schaffung und Neuschaffung der verschiedenen Bilder einfließt, die sich eine Kultur von sich macht, wodurch es zu steten Manipulationen und Falsifikationen komme (Said 1997: 37). Damit bringt Said zum einen die machtvollen Beziehungen in die Diskussion ein, die jede Konstituierung von Kulturen kennzeichnet, und zum anderen den hybriden Charakter, der jeder Kultur immanent ist: „Alle Kulturen sind hybrid, keine ist [...] [rein] [...], keine bildet ein homogenes Gewebe“ (ibid.). Beide Kategorien sind, wie zu zeigen sein wird, für die vorliegende Frage nach den Bedingungen des Konstruktionscharakters von Übersetzung von höchster Relevanz.
„Translationale Kulturen“ – Metamorphosen der Übersetzung
Die in der postkolonialen Forschung laufenden Bemühungen, heterogen ausgeprägte Differenzkonzepte in der Ausformung kultureller Identitäten zu thematisieren, sind auch für die Übersetzungsforschung fruchtbar zu machen. Homi Bhabhas Bemühen um die Erarbeitung eines neuen Begriffs von Übersetzung kann dazu als Grundlage dienen: Bhabha schlägt im Bezugsrahmen der Diskussion von Zentrum-Peripherie und von Kultur-Überlappungen eine „translationale Kultur“ als neuen Ausgangspunkt für kulturelle Auseinandersetzung vor und deckt damit das Potenzial des kulturkonstruierenden Charakters von Übersetzung auf:
Kultur […] ist sowohl transnational als auch translational. […] Die transnationale Dimension kultureller Transformation – Migration, Diaspora, De-plazierung, Neuverortung – läßt den Prozess kultureller Translation zu einer komplexen Form der Signifikation werden. Der natürliche oder naturalisierte, einheitsstiftende Diskurs, der auf fest verwurzelten Mythen der kulturellen Besonderheit wie „Nation“, „Völkern“ oder authentischen „Volks“-Traditionen beruht, kann hier kaum als Bezugspunkt dienen. Der große, wenngleich beunruhigende Vorteil dieser Situation besteht darin, daß sie uns ein stärkeres Bewußtsein von der Kultur als Konstruktion und von der Tradition als Erfindung verschafft (Bhabha 2000: 257, Hervorhebung von mir).
Dieser metaphorischen Sicht von Übersetzen, derer sich heute vor allem von postkolonialer Theorie inspirierte Zweige der Übersetzungswissenschaft bedienen, gingen Übersetzungskonzepte voraus, die zwar die kulturellen Verknüpfungsstrategien von Übersetzung bereits thematisierten und damit auf die Komplexität des Transferprozesses verwiesen, doch waren sie lange Zeit in dichotomische Anschauungen verfangen, die der Dynamik des Translationsprozesses keineswegs gerecht wurden. Friedrich Schleiermacher etwa ist ein interessantes Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Anderen in der Übersetzung. Er meint, die von ihm in die übersetzungstheoretische Diskussion eingeführten Begriffe „Verfremden“ und „Einbürgern“ beschreiben die grundlegenden Verfahren, durch die das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der Übersetzung geregelt wird. Jede Übersetzung bewegt sich laut Schleiermacher zwischen diesen beiden Polen. Er selbst gibt dem Typus des „Verfremdens“ den Vorzug, weil er das Fremde als Wert an sich akzeptiert und diese Erfahrung auch an den Leser oder die Leserin der Übersetzung weitergeben möchte. Diese dichotomisierende Sicht von Übersetzung beherrscht den translatorischen Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert und wird von der Diskussion seitens linguistischer Ansätze in den sechziger und siebziger Jahren weiter genährt, die Jahrzehnte hindurch dem Postulat der „Äquivalenz“ gefolgt war. Linguistisch ausgerichtete Untersuchungen waren lange Zeit vom Äquivalenzkonzept beherrscht, das Zuordnungsbeziehungen sprachlicher Einheiten von Ausgangs- und Zieltexten zu beschreiben versucht und zunächst die unveränderte Gleichheit der übermittelten Nachricht postuliert. An anderer Stelle wird der Situationskontext insofern eingeschlossen, als behauptet wird, dass das Austauschen von Textmaterial in einer Sprache durch gleichwertiges Textmaterial in einer anderen Sprache nur in einer vorgegebenen Situation funktionieren kann (Catford 1965: 35). Das Äquivalenzkonzept wurde im Laufe der Jahre weiter ausgearbeitet. So ist für Werner Koller, einen der führenden Übersetzungswissenschaftler der achtziger und neunziger Jahre, Übersetzung „das Resultat einer sprachlich-textuellen Operation, die von einem ausgangssprachlichen Text zu einem zielsprachigen Text führt, wobei zwischen Zielsprachentext und Ausgangssprachetext eine Übersetzungs- (oder Äquivalenz-)relation hergestellt wird“ (Koller 1992: 16, Hervorhebung im Original).
Der Blick auf den Übersetzungsprozess ist also an dieser Stelle noch denkbar eng. Erst die so genannte „kulturelle Wende“ in den Geistes- und Naturwissenschaften brachte einen entscheidenden Wandel in den Konzepten, Modellen und Verfahren der Translationswissenschaft und bedeutete eine entscheidende Erweiterung des Beobachtungsrahmens und die Erarbeitung von Fragenstellungen, die zunächst vor allem bei der Erforschung von Übersetzungspraktiken Problemkomplexe wie kontextuelle Situation, historische Zusammenhänge oder Konventionen zu berücksichtigen begannen. Der Makro-Kontext des Forschungsgegenstandes des Translats trat damit in den Vordergrund. Wurden in einem ersten Schritt kulturelle „Transfer“probleme noch hauptsächlich als kulturspezifische Einzelprobleme abgehandelt, das heißt es wurden vorrangig lexikalische Probleme unter kulturellen Perspektiven diskutiert, so wurde diese Dimension bald auf die Diskursebene ausgeweitet. In weiterer Folge werden schließlich Asymmetrien von Übersetzungsvorgängen behandelt (vgl. etwa Bachmann-Medick 2001).
In späterer Folge deckten postkoloniale Übersetzungsstudien (etwa Simon/St-Pierre 2000), die unter anderem den Aspekt von Übersetzung als kulturelle Interaktion in den Vordergrund rücken, nicht nur die dem Translationsprozess inhärenten Machtbeziehungen auf, sondern nahmen vor allem auch jene Subjekte in den Blick, die an Schlüsselstellen zur Konstruktion von Kultur durch Übersetzung beitragen. Das bringt uns zum nächsten wesentlichen Punkt unserer Ausführungen, dem Beitrag von Übersetzung in der Konstruktion von Kulturen.
Die Verortung der Übersetzung
Zur Positionierung des Phänomens der Übersetzung im interdisziplinären Diskurs ist zunächst die Erläuterung jüngerer Ansätze zum Transfer „zwischen Kulturen“ erforderlich. In kritischer Weiterführung der von Paris (Centre national de la recherche scientifique) ausgehenden Kulturtransfer-Forschung, die die Untersuchung der vielfachen Transfervorgänge zwischen Frankreich und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt und dabei eine „Neuformulierung der herkömmlichen Frage nach transnationalen Kultureinflüssen“ (Espagne/Greiling 1996) anstrebt, wird in jüngster Zeit der Fokus auf die hybriden Verflechtungen der als höchst komplex verstandenen Austauschpraktiken gelegt, wobei insbesondere die Frage nach den die jeweilige Situation bedingenden Machtverhältnissen im Zentrum steht, die zur Determinierung von Deutungen und auch zur Bestimmung von Selektionsmechanismen innerhalb des Transferprozesses beitragen. Damit wird insgesamt eine Neuorientierung der Kulturtransfer-Forschung vorgenommen. Wenn demzufolge Transfer als „ein auf Mehrdeutigkeit basierendes multiplexes Verfahren des Austauschs von Informationen, Symbolen und Praktiken“ verstanden wird, „im Laufe dessen permanent Uminterpretationen und Transformationen stattfinden“ (Celestini/Mitterbauer 2003: 12), so wird der Blick auf die Verknüpfungsmomente gelenkt, die für den Transfer letztlich verantwortlich sind. Für die in den Transformationsprozess involvierten AkteurInnen bedeutet dies, dass diese durch die permanenten Konstruktionen von Bedeutung zu Neupositionierungen herausgefordert werden, die bestehende Ordnungen in Frage stellen und viele Kontextualisierungsmöglichkeiten offen lassen. Dies läuft jedoch nicht darauf hinaus, dass es zu beliebigen Bedeutungszuschreibungen kommt, es handelt sich vielmehr um kontextabhängige Deutungen, die Fixierungen aufbrechen und im Rahmen der Schaffung permanenter Verunsicherungen bisher nicht Dagewesenes aber auch nicht Rückzuführendes produzieren. Das Arbeiten der am Transfer beteiligten AkteurInnen an den Grenzen, im hybriden Bereich der Kontaktzonen, ist für diesen Prozess symptomatisch: Aus dem „interkulturellen“ Überlappungsbereich heraus, in dem sie vorrangig agieren, versuchen sich die AkteurInnen (z.B. ÜbersetzerInnen) neu zu definieren und zu positionieren.
Die Konsequenzen, die sich aus diesen Überlegungen für die gegenständliche Frage des Konstruktcharakters von Übersetzung ergeben, sind erheblich. Auf der Grundlage des oben skizzierten Kulturbegriffs, der gerade nicht die traditions- und identitätssichernden Aspekte von Kultur in den Vordergrund stellt, sondern die dynamischen Veränderungen, die sich durch jedweden „Kulturkontakt“ ergeben, wird hier – zunächst – der konstruktive Charakter von Kulturen aufgedeckt. Jetzt werden nicht mehr Kulturbeschreibungen vorgenommen, die auf der Basis des Rückgriffs auf ein „neutrales“ Tertium comparationis Vergleiche zwischen Kulturen ermöglichen sollen, sondern es werden globale Machtstrukturen und die Verflechtungen von kulturellem Wissen zur Diskussion gebracht. Edward Saids Orientalismus (1978) ist ein Markstein in der Entwicklung dieser Perspektive von Kultur, deckt er doch durch die Erforschung der Funktionsweise des Kolonialismus auf der Ebene der textuellen und diskursiven Bedeutungsproduktion die Jahrhunderte lang betriebene Dichotomisierung von Orient und Okzident auf, die letztlich zur Konstruktion des Westens (Europa) aus der Projektion durch den Anderen führte. Im Rahmen dieser Konstruktionsprozesse wird das oder der Andere durch das Prinzip von Inklusion und Exklusion definiert. Die Schlussfolgerungen aus dieser Sichtweise sind von erheblicher Tragweite, denn nun erweisen sich Traditionen und Kulturen in dem Maß als Konstruktionen, als sie in Momenten der (kolonialen) Kulturbegegnung und in Abhängigkeit von den jeweiligen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen dieses Kontaktes ausgehandelt werden: Damit wird offensichtlich, dass es kulturelle Ursprünglichkeit nicht geben kann. Ebenso sei an dieser Stelle an das einflussreiche Werk von Hobsbawm/Ranger erinnert, die mit ihrer Denkfigur der „invention of tradition“ (1983) die Erfindung und Verbreitung von modernen kulturellen Symbolen im Namen alter nationaler und ethnischer Traditionen vorantreiben und damit den Konstruktcharakter von Kulturen freilegen. Der Begriff der Erfindung hat in die Beschreibung, die Analyse und in die Kritik zahlreicher Phänomene Eingang gefunden, wie „Erfindung des Selbst“, „Erfindung des Fremden“, „Erfindung der Nation“, u.v.a. und ist damit zu einem zentralen Ausdruck für das Verständnis von Gesellschaften und Lebenswelten geworden. Freilich hat Erfindung damit eine heuristische Denkdimension angenommen, die sich am deutlichsten in Benedict Andersons Nationsbegriff niederschlägt: „[Nation] ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1998: 14). Diese „Vorstellung“ geht in den Köpfen der Mitglieder einer Gemeinschaft vor sich, die sich auch im kleinen Umfeld niemals alle kennen oder einander begegnen können – womit der Konstruktion des Anderen freier Raum gegeben wird. Beiden Formulierungen ist das Moment der Konstruktion eingeschrieben, müssen doch diese „imagined communities“ ebenso auf der Basis vielfacher Re-Kontextualisierungen immer neu entworfen werden wie die zuvor nicht existierenden und „zu erfindenden Nationen“.
In einer solchen Perspektive wird die Verbindung zwischen Kultur und Übersetzung manifest: In komplexen Migrationskulturen finden kontinuierlich Prozesse statt, die der Auffassung von einem geografischen und ethnischen Kontinuum entgegenwirken und vielmehr eine transnationale Vorstellung von Kultur implizieren, in der „Übersetzung“ als in ihrer im weitesten Sinn verstandenen Konzeption vorherrschend ist:
Kultur entwickelt sich jenseits des geopolitischen und ethnischen Codes; sie wird geschaffen von Mitgliedern einer Gemeinschaft, die geographische, ethnische, sprachliche, politische, religiöse, staatliche, nationale Grenzen überschreitet. Kultur ist offensichtlich ein immer wieder neu geflochtenes Netz jenseits geopolitischer und nationaler Grenzen, eine Übersetzungsarbeit von Generationen zu Generationen (Weibel 1998: 76, Hervorhebung von mir).
Auch Doris Bachmann-Medick weist auf die Verknüpfung von Kultur und Übersetzung hin: Sie geht davon aus, dass der Ort, an dem die Überlappung von Kulturen erfolgt, bereits als Ort der Übersetzung bezeichnet werden kann, was wiederum impliziert, dass Kultur in sich selbst bereits Übersetzung ist. Zusätzlich liefert dieser Ansatz einen fruchtbaren Anhaltspunkt für die Aufdeckung von Übersetzungsprozessen schon innerhalb der Ausgangskulturen selbst (vgl. Bachmann-Medick 1997: 13ff.) und schließt damit an das oben diskutierte Hybriditätskonzept an.
Der Beitrag, den das Phänomen des Übersetzens – jetzt wie auch in den letztgenannten Ausführungen im herkömmlichen Sinn verstanden – zu diesem konstruktionsrelevanten Konzept von Kultur leistet, ist erheblich. Wie Susan Bassnett und André Lefevere ausführen, ist der Prozess des Aushandelns, worunter sie die Bedingungen und auch die Handlungen subsumieren, die zur Konstituierung einer Übersetzung führen, unter anderem von institutionellen Zwängen bestimmt (Lefevere/Bassnett 1998: 8). Unter Einbeziehung postkolonialer Denkfiguren bedeutet dies für die translatorische Praxis, dass allein durch die Auseinandersetzung der involvierten AkteurInnen mit diesen institutionellen Zwängen alle beteiligten Faktoren (Personen, Zeichen, Praktiken) Bedeutungsveränderungen erfahren, die sie in einen nicht rückführbaren Status bringen und die zur Konstituierung kultureller Neukontextualisierungen wesentlich beitragen. Auf die Denkfigur der translatorischen “Mittelspersonen” bezogen geben Bassnett und Lefevere zu verstehen, „[r]ewriters and translators are the people who really construct cultures on the basic level in our day and age” (ibid.: 10).
An den Grenzen des Objektbereichs?
Wenn davon ausgegangen wird, dass die Übersetzung – im weitesten Sinn verstandener – postkolonialer Literaturen die plurikulturelle Spannung und die Vielstimmigkeit der involvierten Kulturen zu repräsentieren beabsichtigt, so handelt es sich hier um die Übersetzung von bereits in sich „übersetzter“ Literatur, was von Bachmann-Medick als „Repräsentation von Repräsentationen“ bezeichnet wird (Bachmann-Medick 2004: 451). Dies öffnet den Blick auf den wechselseitigen, dialogischen, polyphonen und interaktionsbetonten Charakter von Übersetzung. Als solche konstruiert die Übersetzung die „empfangende“ Kultur stets mit und kann durch deren „kontaminierten“ Zustand Aufnahmekontexte finden, die aufgrund der Heterogenität der „Aufnahmekultur“ Veränderbarkeit, Erneuerbarkeit und Re-Transformierungen zulassen.
Eine solcherart geführte Diskussion des Beitrages von Übersetzung zur Konstruktion von Kulturen führt unweigerlich zu Fragen der disziplinären Abgrenzung, befürchten doch manche TranslationswissenschaftlerInnen, der Disziplin könnte dadurch ihr Objektbereich abhanden kommen. Spätestens wenn die Untersuchung der interkulturellen Räume, das sich durch jede Übersetzung ergebende Zwischen-den-Kulturen, zur Debatte steht, stellt sich die Frage, ob das „Metaphorische“ überhaupt aus dem Übersetzungsbegriff ausgeklammert bzw. von diesem ferngehalten werden kann: Wo liegen die Grenzen der „Wirkung“ von Übersetzungen, die aus diesem Raum hervorgehen, wer, welche Disziplin definiert diese Grenzen, und: Wie sind diese methodisch zu bestimmen? Die Translationswissenschaft und angrenzende Disziplinen, dabei insbesondere die Kulturanthropologie, stehen somit – wünschenswerterweise in fruchtbarer interdisziplinärer Zusammenarbeit – vor einem weiten Forschungsspektrum, in dessen Zentrum Fragenkomplexe stehen wie die Verständigungstechniken, die die Überschneidung von Kulturen bedingen, oder das Moment des Aushandelns von kulturellen Differenzen bzw. die Brechungen, die durch den Übersetzungsprozess zwischen kulturellen Kodierungen stattfinden. Nur so wird es möglich sein, Forderungen wie „it is time then that attention turn to translation as a pivotal mechanism in creating and transmitting cultural values“ (Simon 1997: 463) zur Realisierung zu verhelfen.
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