Über das Schweigen zu reden oder zu schreiben, erscheint auf den ersten Blick als Paradoxon, sind wir nicht gerade in der (Geistes-)Wissenschaft auf den Diskurs, auf Sprache als Ausdruck der Welt angewiesen. Macht oder einfach nur zwischenmenschliche Interaktionen scheinen häufig nur noch sprachlich vermittelt vorstellbar. Wenn das Thema Schweigen zum Forschungsgegenstand wird, dann bleibt Sprache zwar notwendigerweise Teil der Welt, sie wird aber relativiert und keinesfalls mehr als ihr übergeordnet gesehen; Körperlichkeit und Leiblichkeit als Aspekte der Intersubjektivität und des sozialen Handelns gewinnen an Bedeutung. Das Thema Schweigen geht körperlich nahe, es erinnert daran, dass wir selbst nicht nur denkend, sondern uns mit allen Sinnen in der Welt bewegen.An den Beginn dieser Ausgabe des Kuckucks wollen wir einige Gedanken stellen, die sich der Initiatorin und „intellektuellen Seele des Unternehmens Kuckuck“ Elisabeth Katschnig-Fasch, die am 4. Februar 2012 gestorben ist, widmen. Der entstandene „Nachruf“ ist mitunter der Versuch, das lähmende Schweigen als Reaktion auf die Unfassbarkeit des plötzlichen Todes zu durchbrechen und die Form des Schreibens als eine Art des Sich-Erinnerns an Elisabeth Katschnig-Fasch zu nutzen.
Im Folgenden dieser Ausgabe werden alltägliche Praktiken des Schweigens behandelt, die sich oft erst im strukturellen Verständnis seines Gegenparts, dem Sprechen, zu konstituieren beginnen.
Anja Kittlitz fragt in ihrem Beitrag danach, wie sich am Beispiel der Deutschen Gebärdensprache Konstruktionsprozesse des Anderen zeigen lassen. Sie beschreibt Distinktionen bzw. Zugehörigkeiten von Hörenden und Gehörlosen, wobei die Zuschreibungen Hörendsein, Schwerhörigsein und Gehörlossein als Ergebnisse medizinischer Diagnostik und damit als soziale Konstruktionen verstanden werden. Kittlitz zeigt einmal mehr, wie Sprache - oder Gebärdensprache - als zentrales Distinktions- und Identifikationsmittel eingesetzt werden kann.
Jacques Picard setzt sich mit dem Phänomen der Kabbalah, der jüdischen Mystik, auseinander, wobei er sich u.a. säkularer Formen annimmt, wie sie etwa mit der Pop-Ikone Madonna oder mit dem Namen Rabbi Yehuda Berg verbunden sind. Dabei thematisiert er auch die Spannung zwischen dem Anspruch der Kabbalah, eine Geheimlehre zu sein, der weiten Verbreitung ihrer Lehren und der sich aktuell abzeichnenden Popularisierung.
Das Schweigen in der frühen Fachgeschichte der Volkskunde wird von Dunja Sporrer anhand der Wissenschaftlerin Lily Weiser-Aall thematisiert. Durch die Studie der Biografie und von Briefkorrespondenzen der ersten Frau, die sich im Fach habilitieren konnte, findet Sporrer heraus, dass ihr Werdegang in der Fachgeschichtsschreibung in Vergessenheit geriet.
Nach einer begrifflichen Klärung im Sinne einer etymologischen Spurensuche nach dem Begriff Tabu, nimmt Daniel Habit eine Unterscheidung zwischen nonverbalen und verbalen Tabus vor, um dem Thema des Heftes gerecht zu werden. Wissenssoziologische Ausführungen werfen Fragen nach der Kompetenz und Performanz des Wissens über Tabus auf, sowie Fragen nach den Bedingungen, unter denen dieses Wissen erworben wird.
Die Schweigeminute im Fußballstadion wird durch Stefan Hebenstreit in den Kontext eines normativ lärmerfüllten Ortes gestellt. Gerade die in den Körper eingeschriebene Bewegungslosigkeit, die mit der inszenierten Stille einhergeht, entfaltet im Raum des Sports – als Ort des Lebendigen, ihre potenzielle Wirkkraft.
Die alltägliche Praxis des Schweigens und Sprechens über Geld, als häufig unerwünschte, sensible sowie emotionale Praxis, wird von Gisela Unterweger in den Blick genommen. Im Spannungsverhältnis zwischen Eltern- und Kindergeneration wird deutlich, dass die Anhäufung von ökonomischem Kapital im Sprechen über Geld entweder zur (totalen) Verstummung oder zur (übermäßigen) Betonnung führen kann.
Einen Beitrag aus der Tourismusforschung liefert Martina Röthl, die am Beispiel der Privat(zimmer)vermietung in Tirol Aspekte des Verhältnisses von Sprechen und Schweigen analysiert und dabei zum Schluss kommt, dass gerade jene Zusammenhänge als wesentlich erscheinen, die in den Bereich des Nicht-Diskursiven reichen. Durch die Konzentration auf das Nicht-Diskursive können Leerstellen, die die gesprochene Sprache hinterlässt, erst wahrgenommen werden. Dabei gewinnen vor allem materielle Repräsentationsformen als Analysegegenstand (wieder) an Aufmerksamkeit.
Susanne Schmitt nimmt die Leserin und den Leser in ihrem Essay mit auf sinnliche Erkundungsreise eines Münchner Sea Life Aquariums. Die dabei vorgefundenen akustischen Farben und Klänge, Atmosphären und multisensorischen Erlebniswelten verweisen auf die Unmöglichkeit des Schweigens eines an sich stummen Gegenstands: der Unterwasserwelt.
Die Lyrik stammt von Elisa Rieger und Markus Seidl. Mit bildhafter Poesie bereichern sie unsere Ausgabe, indem die in die Stille eingeschriebene Lebhaftigkeit zum Vorschein kommt.
Gerlinde Malli & Claudia Rückert