Die manipulative Herstellungskraft des Scheins war wohl zu keiner Zeit so bestimmend wie in unserer gegenwärtigen Schönen Neuen Welt. Unendliche Möglichkeitsräume sind uns als neue Realität versprochen. Die Strategien des Verbergens, der Simultanität, der Täuschung sind zur Normalität geworden. Was ist wahr, und was ist Absicht ? Was ist eigentlich überhaupt noch, was es vorgibt zu sein? Die komplex gewordene Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung ist undurchschaubar geworden. Die Grenzen zwischen Raum und Zeit, Mensch und Maschine, zwischen Wirklichkeit und Erreichbarkeit scheinen endgültig aufgehoben. Wenn sich aber die Macht der Versprechungen durchzusetzen beginnt, wenn sie von den Einzelnen Konsequenzen einfordern, spätestens dann gibt sich ihre Kehrseite zu erkennen. Da reaktivieren sich unmaskiert alte Hierarchien, überwunden geglaubte Zwänge und Herrschaft – scheinbar naturgesetzlich und unabwendbar. Aus unterschiedlichen und kritischen Blickrichtungen legen unsere Autorinnen und Autoren Zusammenhänge dieses Vexierspiels frei und spüren den Bestandteilen und machtvollen Auswirkungen der digitalen und technischen Optionsgesellschaft nach. Hinter dem „Schein vom zivilisatorischen Krieg in der westlichen Medienberichterstattung“ spürt Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann eine Legitimationslogik der Metaphern, Mythen und moralischen Beschwichtigungsformeln auf. Sie entdeckt im freiheitlich-demokratisch bemäntelten Machtanspruch der „Guten“ über das „Böse“ altbewährte Angstbewältigungsstrategien der „zivilisierten Welt“. Den Metaphern vom entgrenzten Europa, der Gemeinsamkeit, des zukünftigen Wohlstandes und der Harmonie widmet sich die Kulturanthropologin und Volkskundlerin Elisabeth Schober in ihrem Beitrag „Scheinbar entgrenzt“. Die Inszenierungen, die anlässlich der Feierlichkeiten der Grenzöffnung zwischen Österreich und Slowenien aufgezogen wurden, fungieren als Abwehr der kulturellen und symbolischen Relevanz einer Vergangenheit und einer realen sozialen Ungleichheit, um das Funktionieren rein ökonomisch motivierter Interessen zu sichern.
Eine besondere Plattform der globalen Vorherrschaft des Scheinbaren stellt das Internet dar, das auch immer öfter von subversiven Interessen einer Gegenöffentlichkeit als Mittel und Bühne zur Delegitimation und Unterminierung von Herrschaft genutzt. In seinem Beitrag „Scheinbar un-wahr“ geht der Kulturwissenschaftler Klaus Schönberg einem solchen, von einer Aktionsgruppe gesetzten Fake nach. Die soziale und kulturelle Grammatik der Macht und der sozialen Ignoranz eines für einen grauenvollen Chemieunfall im indischen Bhopal verantwortlichen US-Konzerns wurde von einer engagierten „Kommunikationsguerilla“ durch Imitation entstellt und umgedeutet - und die Autorität des Konzerns damit außer Kraft gesetzt. Dass sich auch hinter und mit der humantechnologischen Revolution, die im Namen der Erlösung von menschlichem Leiden den wohl ältesten Traum der Menschheit zu verwirklichen verspricht, kulturspezifische (neben handfesten ökonomischen Interessen) Machtinteressen verbergen, führt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin vor Augen. Ihr Beitrag beschäftigt sich mit der angeblichen Wertfreiheit und der „Machbarkeit und Macht der Humantechnologien“. Die grenzenlosen Verfügungswünsche über den Körper als Objekt der Medizin kritisch zu hinterfragen, ist eine „brennende Herausforderung der Kulturwissenschaft“. In diesem Sinn versteht sich auch die Auseinandersetzung zum „Schein des Fortschritts“ der Philosophin Elisabeth List mit dem kürzlich erschienenen, Aufsehen erregenden Buch von Anna Bergmann „Der entseelte Patient“ - eine Geschichte der Verwirklichung eines schreckenerregenden Menschheitstraumes von Herrschaft und Unsterblichkeit. Eine Geschichte jener Wissenschaft, in der sich die Gewalt am Menschen als Opfer drapiert, ein Opfer, das zum Nutzen der Gesellschaft dargebracht wird.
Die Faszination des Virtuellen demonstriert sich bereits an den Spielkonsolen daheim im Wohnzimmer. Hier entkommt „mann“ ganz real (für Stunden, Tage und Wochen) der eigenen unwirtlichen oder langweiligen sozialen Wirklichkeit. Thomas Lackner, Kulturanthropologe und Volkskundler, geht den Motiven der Begeisterung für diese Scheinwelten und ihrem Einfluss auf erwachsene Spieler nach. In den Fantasiewelten mit ihren mystischen Gestalten entdeckt er alte hierarchische Rollenbilder, Figuren einfacher Weltordnung und das alte Versprechen der Erlösung durch Gewalt. Ein Spiel nur? Die paradoxe Versprechungskultur der Glücksgesellschaft verdankt sich der Fragilität und der Unsicherheit, der strukturellen Gewalt der gegenwärtigen Alltagsrealität. Den Erlösungsversprechen durch den schnellen Geldgewinn der boomenden Gewinnspiele und Quizsendungen im Fernsehen, denen nur eines gewiss ist, nämlich der
ökonomische Gewinn der Betreiber, folgt der Kulturanthropologe Claudius Terkowsky in seinem Beitrag „Anrufen und Gewinnen?“.
Im schönen Schein verblendet sich sein Schatten. „Brot und Spiele“ – dieser ewige Zusammenhang bestätigt sich noch einmal in Judith Laisters Beitrag „Blendend“. Als Kulturwissenschaftlerin stellt sie sich die Frage, was sich hinter der gegenwärtigen Kulturhauptstadt-Euphorie verbirgt und welcher Substanz die Verführungskraft und -Intention um jeden Preis ist. Abschließend nimmt die Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin Gabriele Michalitsch die Fäden des fatalen Zusammenspiels zwischen „Verlockung, Verführung Versagen“ auf und führt aus feministischkritischer Sicht die unheimliche Funktionslogik der neuen Marktlogik und ihre Konsequenzen vor Augen. Ungeahnte Möglichkeiten stehen offen, wenn sich die Menschheit nur auf die Spielregeln bedingungslos einlässt - so hieß und heißt es noch immer. Raymond Williams Auftrag, nur im Zusammenspiel der politischen und ökonomischen Strukturen die kulturelle Befindlichkeit der Menschen zu begreifen, ist jedenfalls Auftrag für ein weites Betätigungsfeld einer Kulturwissenschaft.
Elisabeth Katschnig-Fasch