Das Phänomen Ordnung weist kulturelle, symbolische, soziale, normative oder auch systematisch-analytische Aspekte auf, betrifft Öffentlichkeit und Privatheit zugleich sowie Spannungsverhältnisse zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen Struktur und Praxis. Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche, sei es beispielsweise die Familie, die Wirtschaft, die Politik oder die Wissenschaft, sind von Ordnungsaspekten und -logiken durchzogen, oft knüpfen sich Wertvorstellungen und Ideologeme daran. Ordnung kann durch Verhaltensanweisungen eingefordert werden. Wo immer Ordnung in Kraft tritt, droht sie aber auch, sich in Unordnung aufzulösen.
Daher muss sie gesichert oder wiederhergestellt werden. Ordnung, so scheint es, braucht Kontrolle und verlangt nach Anleitung. Ordnung benötigt aber auch ihren Gegenpol, die Unordnung. So wird das Herstellen von Ordnung zur Methode, um Bilder von Unordnung festzuschreiben.Ordnung bietet einen Orientierungsrahmen durch Grenzziehungen. Die Irritation von Ordnung, beispielsweise durch widerständige Praktiken, steht so in direktem Zusammenhang mit ihrer Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung durch normative oder rechtliche Kräfte. Ordnung ist immer auch Ausdruck von Macht- und Autoritätsverhältnissen. So etwa ist das Verhältnis der Geschlechter in gesellschaftlichen Ordnungen verfestigt und mit Hierarchisierungen und Machtasymmetrien verbunden. Soziale Ordnung spiegelt sich in klassen-, geschlechts- und generationenspezifischen Selbstpräsentationen, Selbstbegrenzungen oder Selbstabwertungen wider und wird, wie Pierre Bourdieu und Studien in seinem Anschluss zeigen, durch Bildungsentscheidungen und Bildungsverläufe beständig reproduziert. Diese Reproduktionsmechanismen sichern die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, die noch einmal durch Naturalisierungen verfestigt wird, da die Habitualisierung hinter Vorstellungen über die „Natürlichkeit der Verhältnisse“ die soziale Herstellung der Ordnung vergessen lässt.
Machtverhältnisse beruhen auf dem Kräfteverhältnis von Ordnung und Widerstand. So sind auch Unordnungen, das Bestreben nach Unabhängigkeit und Freiheit in ideologischen, sozialen wie ökonomischen Verhältnissen, Teil einer Ordnungsdoktrin.Die Beiträge dieser Ausgabe des Kuckucks greifen unterschiedliche Aspekte, die mit dem Phänomen Ordnung assoziiert werden können auf und führen die Leser_innen an unterschiedlichste Schauplätze, an denen Ordnungen hergestellt oder gestört werden. Aufbauend auf literarische Quellen wie Utopien und Romane zeigt Orvar Löfgren in „Dreaming of a perfect Order“ auf, wie Strategien zur Bewältigung von Unordnung im eigenen Zuhause hergestellt werden. Gerade Utopien von minimalistischen, dem Überfluss in der Konsumgesellschaft widersprechenden Welten, weisen auf die Suche nach Kontrolle des Überflusses hin. Löfgren veranschaulicht, dass gerade das Heim von Gegenständen, Aktivitäten und Emotionen überflutet wird und sich daher besonders als Forschungsfeld eignet, um die verschiedenen Strategien zu erforschen, die sich der Kontrolle der Unordnung, dem Überfluss widmen. Im Beitrag von Ingrid Breckner über „Urbane Ordnungen“ geht die Autorin auf die zahlreichen Möglichkeiten der Nutzung von öffentlichen sowie privaten Räumen ein. Dabei sind die „Praktiken des öffentlichen und privaten urbanen Ordnens“ von Machtkämpfen um Ordnungsinteressen durchzogen. Wesentlich ist weiter, dass Ordnungsregeln in deren zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontext einzubetten sind und somit immer eine gesellschaftstrukturelle Dimension aufweisen.Kenneth Anders lässt die Leserin anhand von Kurzportraits vierer Personen in deren unterschiedliche hauswirtschaftliche Ordnungen einblicken. Sein Beitrag kann als ein Plädoyer für ein „ethnologisches Programm zur Beschreibung unseres täglichen Lebens“ gelesen werden, das zugleich Kritik an der soziologischen Lebensstilforschung übt, die anstatt die „Vielfalt der Lebensvollzüge im Spannungsfeld von persönlichem Wirtschaftszusammenhang und der Teilhabe an gesellschaftlichen Bedeutungen“ zu befragen, Kategorisierungen von Individuen vornimmt und damit der Komplexität hauswirtschaftlicher Ordnungen nicht Rechnung tragen kann. Benedikt Kroll spannt das Konzept der Studienordnung mit post-panoptischen Machtpraktiken zusammen. Dabei geht er u.a. den Fragen nach, welche formenden Wirkungen Studienordnungen auf den Lehrbetrieb haben und inwiefern sich Studienordnungen auf das Ausleben von studentischer Neugierde auswirken können. Insgesamt möchte Kroll mit seiner Arbeit einen Beitrag für Entwürfe neuer Ideen im Bereich der Forschung und Lehre leisten. Basierend auf einer Feldforschung in einem Berliner Bürgeramt zeigt Christian Blumhagen auf, wie Ordnung in der öffentlichen Verwaltung von den Mitarbeiter_innen in (Arbeits-)Abläufen produziert, unterwandert und angepasst wird. Der Versinnbildlichung von Ordnung in bürokratischen Abläufen wird hier ein ethnographischer Einblick entgegengesetzt.Mit seinen „fragmentarischen Beschreibungen von Nacht als ordnungsstiftende Erwartung“ lockert Michel Massmünster diese Ausgabe des Kuckucks insofern auf, als dass er einen poetischen Schreibstil anwendet und konkretes Anschauungsmaterial einbindet, auf eine theoretisierende Sprache hingegen ganz verzichtet. Massmünster führt in seinem experimentellen Texterzeugnis die Leser_innen an unterschiedliche Schauplätze der Nacht und lässt auch in seine ganz persönlichen Empfindungen während des Feldforschens einblicken.Der Konstruktion von Ordnung, dem Ideal einer heilen Welt sowie der Imagination einer funktionierenden Familie gehen Michael Geuenich und Maria Heidenreich nach. In der Analyse von privaten Aufnahmen, insbesondere den Familienfilmen, wird auf mehrere Perspektiven dieser sinnstiftenden Produktionen eingegangen: die bewusste Herstellung und Präsentation des Ideals „Familie“, die Inklusion vorzeigbarer und die Exklusion unliebsamer Themen und schließlich das Machtgefüge innerhalb der Filmproduktion.In ihrer differenzierten Analyse der Do-It-Yourself-Kultur arbeitet Nikola Langreiter vor allem die Ambivalenz des Phänomens des Selbermachens als Nischenökonomie heraus: Auf der einen Seite ist das Phänomen in neoliberale Konzepte eingebettet, auf der anderen Seite kann die Praxis des Selbermachens als Widerständigkeit gegen kapitalistische Werte gelesen werden. Die Autorin nimmt die virtuellen Marktplätze dieser neuen Form von Ökonomie in den Blick und kommt zum Schluss, dass sich in deren Repräsentationen viele der herrschenden Ordnungen widerspiegeln, insbesondere die Ordnung der Geschlechter. Elisabeth Luggauer widmet sich der Sicherung von Sauberkeit und Ordnung im öffentlichen Raum der Stadt Graz. Dabei erhielt die Autorin durch direkte Begegnungen bei Spaziergängen besondere Erkenntnisse über die Normierungsstrategien der Stadtregierung. Nicht nur die Grenzen ethnographischen Forschens im politischen Feld wurden sichtbar, sondern auch die Mechanismen zur Aufrechterhaltung von Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit. Sie veranschaulicht eindrücklich, dass mittels Raumaneignung der öffentlichen Ordnungsorgane gegen unkontrollierte Raumaneignung vorgegangen wird.
Gerlinde Malli, Claudia Rückert