Signum der Nacht ist ihre Zeitverlorenheit. Darauf gleich einmal hinzuweisen, soll unsere Entschuldigung für die Verspätung der Ausgabe zu „Nacht“ nicht ersetzen.
„Wie können wir über die Nacht als Wahrnehmungstatbestand, als zugleich natürlichen und gesellschaftlichen Rhythmus schreiben, wo wir sie doch verschlafen?“, fragt Justin Winkler zu Beginn. Mit seinen Gedanken zu Nachtung machen wir uns auf den Weg zu gesellschaftlichen und kulturellen Räumen und Kräften der Nacht. Und in der Tat, erst in den beleuchteten Nächten konnten die Kulturwissenschaften die Besonderheit der nächtlichen Konturen der Ruhelosen, der Dinge und der Räume entdecken, ihre Geräusche und Gerüche, das Leben der Dunkelheit und seine kulturellen Kräfte ans Licht holen. Die beste Zeit, über das Besondere der Nacht, der Antipode des Tages, nachzudenken, so Bastian Bretterhauer in Wenn es dunkel wird, ist die Dämmerung, jene Stunde der Gleichzeitigkeit von Rationalität und Nüchternheit des Tages und der Imagination der „irrationalen“ Dunkelheit. Er folgt den Nachtschwärmern, den zeitgeistigen Innovativen der neuen Nacht, den kulturellen und sozialen Bewegungen des städtischen Nachtlebens, der kreativen Atmosphäre nächtlicher Milieus.
Michel Massmünster lässt sich von der nächtlichen Stadt, vom Vergnügungsleben und der Aufforderung Do you wanna touch the night tonight der Turbojugend Basels locken, um daran teilzunehmen, um zu fühlen und zu erleben und um darzulegen, wie sich das Geschehen in der Szene den am Sehsinn orientierten Begrifflichkeiten entzieht und wie sich mit den kollektiven Inszenierungen Räume gestalten, solche zum Verweilen in Atmosphären und Imaginationen, solche des Weiterziehens, des Provozierens und Parodierens. Zu den Kosmonauten des Berliner Unterground und in das Nachtleben der afrikanischen Flüchtlingsszene von Wien führt Anja Schwanhäusers Erkundigung nächtlicher Atmosphären. Mit Bourdieu bei Nacht leuchtet sie in die sinnlichen Undurchsichtigkeit voller Melancholie und Sehnsüchte, wo sich Menschen dem taghellen Wettbewerb zu entziehen glauben, und dennoch den ewigen Kampf um Status und Distinktion austragen: schriller, exotischer, nächtlicher eben nur.
Jens Wietschorke, angezogen vom urbanen Licht, sucht in „Wien leuchtet“ die nächtliche Ordnung des Raums und erkennt in der Lichtregie das „Baumaterial“, das sozialen Unterschied herstellt. Dass die Nacht in den Städten auch Raumzeiten produziert, die als Bühnen moralischer Ordnungen, geschlechtsspezifischer Rollen und Verhaltensmuster, Anstand und Unanständigkeit dienen, das thematisiert Gabriela Muri Koller in ihrem Beitrag Auf der grünen Wiese der Nacht. Sibylle Künzler und Tobias Scheidegger betrachten wiederum unterschiedliche artifizielle Lichtquellen – ob romantisch, glamourös, verboten, schneidend mächtig oder schattenhaft funkelnd -, die sie in ihrem Beitrag „...keine Nacht wie diese“ nach ihrer kulturellen Textur befragen.
Roswitha Jauk hingegen verweist mit der Autorin Karin Röggla „wir schlafen nicht“, auf die organisierte Umnachtung. Diesem dramatischen Phänomen sind immer mehr Menschen seit der New Economy ausgesetzt, fremd gesteuert, funktionierend in Rast- und Schlaflosigkeit. Diese Rezension einer mit dem Bruno-Kreisky-Preis als bestes politisches Buch ausgezeichneten soziologischen Studie, mahnt damit jene Wirklichkeit zu bedenken ein, die Menschen – bar jeglicher Träumereien - zu Zombies werden lässt.
Die Kolonialisierung der Nacht durch die zunehmende Ausbeutung der Arbeitskraft seit dem 19. Jahrhundert, Beherrschung der Nacht durch Lichtregime und ihre räumliche Differenzierungskraft sind gesellschaftliche Tatsachen, so Hans-Werner Prahl in Nicht nur zum Schlafen…Skizzen zur Nacht. Ihm gilt es zudem, die alten, Interpretationsmuster - Zeit der Geheimnisse, der Gefahren und der Paradoxien - „aufzuklaren“. Mit welch Vieldeutigem wir es beim Nachtleben zu tun haben, darauf verweist auch Paula Helm, wenn sie den Städter(n) im Zwielicht nächtlicher Straßen folgt. Eine abenteuerliche Herausforderung, die es gebietet, in der Dunkelheit auf der Hut zu sein. Besonders, wenn es gilt, die Atmosphären der Nacht ins Netz einer Wissenschaft zu holen. Es sind Schriftsteller vielmehr, denen die nächtliche Atmosphären zur hellen Schaffenszeit imaginärer Bilder geworden sind. Dass sich eine Wissenschaft, die sich der Poesie der Welt nicht verschließen will, bei ihnen Inspiration für den besonderen Wahrnehmungsraum Nacht holen kann und soll, das zeigt noch einmal Jutta Dornheim mit ihren kulturpoetischen Überlegungen zu einer Phänomenologie der Nacht. Mit dem Beitrag Die Nacht, die Atmosphären, der Text. setzt sie einen markanten Schlusspunkt als verheißende Perspektive. Wie damals, 2006, als Jutta Dornheim ein Werk Herta Müllers in ihrem Beitrag „Die Wasser kauenden Enten“ unter einem (Leib-)Kultur und Poesie verbindenden Aspekt analysiert hat und damit die spätere Nobelpreisträgerin vorausschauend würdigte. Auch darauf müssen und dürfen wir heute - und mit gefälligem Stolz - hinweisen.
Elisabeth Katschnig-Fasch