Ein Gerücht – das ist das, was uns neugierig macht, auch wenn wir wissen, dass es nicht die Wahrheit verkündet. Aber ist das nicht auch ein Gerücht? Das jedenfalls steht fest: „wo Gerüchte wabern, ist auch der Leib gefordert“. Die Bremer Kulturwissenschaftlerin Jutta Dornheim macht bewusst, wie Gerüchte unter die Haut gehen und dabei selbst die Kraft einer Leib und Leben bedrohenden Realität gewinnen können. Sie folgt der rumänischen Schriftstellerin und Dissidentin Herta Müller, die von der Wirkung von Gerüchten auf den eigenen Körper erzählt, davon wie der lange Arm politischer Gerüchte einer erlittenen Diktatur das Leben selbst im demokratischen Westen noch zu greifen vermag.
Aber Gerüchte sind nicht an Diktaturen gebunden. Nirgends blühen Gerüchte so üppig, wie in Printmedien. Und dies obwohl – oder besser gerade weil, Gerüchte keinen identifizierbaren Urheber haben, der den Wahrheitsgehalt nach gebotener Recherche bestätigen müsste, wie es etwa ein seriöser Journalismus verlangt. Die Basler Kulturwissenschaftlerin Christine Bischoff leuchtet hinter Medienberichte zu illegalen Autorennen. Berichte, die soziale Konflikte zu unwiderlegbaren „Tatsachen“ ethnischer Charaktereigenschaften stilisieren. Ob die Sache wahr oder falsch ist, scheint dabei keine Frage wert zu sein, wichtig allein ist, dass die Geschichten für wahr gehalten werden.
Der „schlechte Ruf“, kann auch bewusst hergestellt werden, lanciert als „vox populi“, womit Meinungen so gelenkt werden, dass sie zum politischen Potenzial anwachsen können. Der Volkskundler Sönke Friedreich (Dres-den) erinnert, wie die Yippies diese bewusste Strategie einsetzten, um damit das Establishment gehörig herauszufordern, was schließlich in gewalttätigen Polizeiaktionen mündete. Gerade unsichere Zeiten, historische Ausnahmeereignisse und Zustände sind ein garantierter Nährboden für Gerüchte, wobei sich die Wirkung meist einer Legierung aus traditionellen Bildern und Vorstellungen verdankt. Die Geschichten werden glaubhaft, weil ihnen das kollektive Gedächtnis einen faktischen Status verleiht. Die amerikanische Kulturanthropologin Pamela Feldman-Savelsberg führt uns nach Kamerun, wo sie eine Genealogie von Gerüchten auffindet, die in den aktuellen ethnischen und globalen Spannungen eine eminente Rolle spielen. Die als Gerücht oder als Verschwörungstheorie zum Ausdruck gebrachten Ängste verarbeiten gewissermaßen die Krisen und soziale Spannungen und treiben sie auch weiter.
So schürt auch der auf einem gemeinsamen Wertesystem wachsende simple Klatsch die Sensationslust, wobei die Dorföffentlichkeit als besonderer Resonanzboden fungiert. Ungeachtet des persönlichen Schicksals der einzelnen Betroffenen stellt sich damit nach vorherrschenden moralischen Ökonomien eine auch bedenkliche Ordnung her, wie Ira Spieker, Kommunikationswissenschaftlerin (Dresden) am Beispiel eines historisches „Falles“, eines rund um eine außereheliche Schwangerschaft rankenden Gerüchts zeigt.
Gerüchte sind somit - damals wie heute - auch als ein „symbolisches Reagieren“ auf gesellschaftlich tabuisierte Handlungsimpulse zu verstehen. Dass auch als „Tatsachenberichte“ gekleidete frühe „urban legends“, wie die aus der Feder Daniel Defoe zur großen Pestepedimie in London, so zu lesen sind, analysiert der Schweizer Literaturwissenschaftler Alfred Messerli. Wenn Ereignisse den Horizont des Begreifbaren sprengen, zieht die Gerüchteküche besonders wirkungsmächtige Folgen nach sich, was der Innsbrucker Ethnologe Ingo Schneider am Trauma des 9/ 11 thematisiert. Wobei Medien sowohl als Kommunikationsnetz, als Urheber, und als Adressat den Gerüchte-Kräften eine entsprechend explosive Dynamik verleihen.
Selbst die alljährlich zu bestimmten Zeiten epidemisch sich verbreitenden Formen – so harmlos sie scheinen, pathologisieren und immunisieren zu-gleich, wie Bernd Rieken, Psychoanalytiker und Ethnologe (Wien), an der „gefährlichen“ Dornfingerspinne und den ambivalenten Gerüchtewegen zeigt. Der Frage, wer dann an welche Gerüchte glaubt und warum, geht Stephan Gill, Hannover, nach. Der paradoxe Schlüssel ist die Sehnsucht nach Überschaubarkeit, nach Erklärung, nach Befreiung von Ängsten, die immer gleich und doch immer neu zu absurden Vorstellungen einer Wirklichkeit führen, der wir zu entkommen versuchen und dabei erst recht in die Falle gehen.
Kein Gerücht ist, dass die redaktionelle Arbeit auch voller Tücken steckt. Dem Beitrag von Moritz Ege zum ethnozentristischen Charakter der Soul-Rezeption geht eine große Entschuldigung der Redaktion voraus, denn er ist aus der Produktion des Themenheftes: “Übersetzen“ gerutscht und wird nun nachgereicht.
Elisabeth Katschnig-Fasch