Manuela Barth
„Gut gesehen“
Visuelle Wissenspraktiken in der Amateurfotografie
„Es ist der 6. Februar 2010 und in München werden gerade die letzten Vorbereitungen für die Sicherheitskonferenz getroffen. Auf dem Weg zur Uni überholt mich ein Mannschaftswagen der Polizei, denn die Innenstadt wird abgeriegelt, um die erwarteten Demonstrant_innen zu kontrollieren. Es handelt sich um einen Routineeinsatz für die Polizist_innen, die aus ganz Deutschland zum Dienst angereist sind. Routiniert wirken inzwischen auch die Stadtbewohner_innen, denen dieses immer wiederkehrende Ereignis vertraut geworden ist. Beim Überqueren des Odeonsplatzes nehme ich deshalb die parkenden grünen Mannschaftswagen nur beiläufig wahr. Etwa fünfzig Polizist_innen sind gerade am aussteigen. Sie tragen alle Uniform. Alter, Geschlecht, „Rasse“ werden hinter der Markierung „Ordnungshüter“ unsichtbar. Nach dem relativ ungeordneten Ankommen und Aussteigen stellen sich die Polizist_innen vor ihren Autos ordentlich in einer langen Reihe auf und kehren dabei dem Platz den Rücken. Diese eigenartige Formation erinnert mich eher an eine Aufstellung für ein Gruppenbild als an polizeiliche Ordnungsmaßnahmen und erregt deshalb meine Aufmerksamkeit. Zunächst scheint mir meine Assoziation kurios zu sein, aber auf den zweiten Blick stelle ich fest, dass es sich bei dieser Übung tatsächlich um eine Gruppenbildinszenierung handelt. Erkennbar ist das an einer Polizistin, die sich in ausreichender Distanz mit einer Kamera in der Hand am Rand des Platzes positioniert hat. Sofort greife ich in meine Tasche nach meiner Kamera, um diese Situation zu knipsen. Doch ich finde sie nicht. Selbst mein Mobiltelefon, die mögliche Alternative, um diese Situation doch noch festhalten zu können, ist in der Tasche unauffindbar.
Während ich weitergehe sehe ich, wie einige der Polizist_innen eine bayerische Flagge entrollen und vor sich in die Kamera strecken. Diese Inszenierung mitsamt ihren Elementen eines klassischen Gruppenbildes passt so gar nicht in die bekannten Medienbilder von den Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant_innen und Polizei, die in wenigen Stunden hier stattfinden könnten. Vor dem Hintergrund dieses imaginären Bildes erscheint die sich darbietende Betriebsausflugsatmosphäre befremdlich. Während ich weitergehe, imaginiere ich den verpassten Schnappschuss: Ich würde einen Standpunkt wählen, von dem ich den gesamten Platz im Blick hätte, die Feldherrenhalle im Zentrum, wie eine Bühne. Darauf wäre die ordentliche Reihe der sieben oder acht grünen Mannschaftswagen zu sehen, davor die Reihe der Polizist_innen und vor dieser – mittig, um die Symmetrie von Architektur und der Selbstinszenierung der Ordnungshüter zu unterstreichen - die Polizeifotografin. Während ich mir diesen Bildraum vorstelle, interpretiere ich ihn bereits: eine Bühne, die zugleich die Hinterbühne der Konferenz ist, auf der alles das geschieht, was die Inszenierung von Staatsmacht ermöglicht. Die historischen Bilder von nationalsozialistischen Aufmärschen auf diesem Platz scheinen vor meinem inneren Auge auf. Sie würden auch, so nehme ich an, von den – imaginierten – Betrachter_innen meines Fotos assoziiert werden können, schließlich gehören sie zum kollektiven Bildgedächtnis. Und schon suche ich nach einem Titel, der die Gleichzeitigkeit von Vorder- und Hinterbühne, die Ungleichzeitigkeit der Ereignisse, die einander in diesem Raum überlagern, betonen könnte. Und auch über eine Veröffentlichungsstrategie denke ich nach: ein tagesaktueller Schnappschuss, noch heute auf einer online Plattform publiziert. Welche Reaktionen, Kommentare, Diskussionen könnten sich daraus ergeben, wie könnte diese Geschichte durch die Vernetzung mit Wort- und Bildbeiträgen, Musik- und Video-Verlinkungen weitererzählt werden? Aber, obwohl ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war – die Voraussetzung für einen Schnappschuss – fehlte ein Element und so konnte ich ihn nicht materialisieren.“ (Feldnotiz 6.2.2010)
In den darauf folgenden Stunden, Tagen und Wochen erschienen tausende von Videos und Fotos, die während der Sicherheitskonferenz von Fotojournalist_innen, Demonstrant_innen, zufälligen Passant_innen, Schaulustigen, Polizist_innen, Hobbyfotograf_innen mit den unterschiedlichsten Kameras in München aufgenommen wurden, im Internet. Die Bilder wurden begleitet von journalistischen Berichten, privaten Augenzeugenberichten, Anekdoten und Diskussionen, die sich nicht allein mit den Ereignissen vor Ort befassten. Verschiedene Diskurse sind hier und in anderen Medien so über längere Zeit weiter produziert worden.
Im folgenden möchte ich mich, ausgehend von dieser Situation, in der ein Foto imaginiert aber nicht materialisiert wird, mit dem „fotografischen Blick“ auseinandersetzen. Dieser sei, so kann man in der Anleitungsliteratur lesen, das Entscheidende; „der Blick des Fotografen - eine Art ‚Rahmenvision‘, die ständig Szenen aus dem Leben als potenzielle Bildmotive wahrnimmt“ (Freeman 2008: 9). Angenommen wird bei diesem Modell ein betrachtendes und handelndes Subjekt, das mit Hilfe eines technischen Werkzeugs seine Bildidee umsetzt, indem es das Objekt seines Blicks ablichtet. Ich möchte hingegen argumentieren, dass es sich bei dem fotografischen Blick um eine Assemblage komplexer Blickpraktiken handelt, in die verschiedene Akteure, sowie Fabrikations- und Sozialisationsprozesse unter ständiger Reaktualisierung eingebunden sind. Weil diese Blickpraktiken so eng mit Wissenspraktiken verknüpft sind, bezeichne ich sie als „visuelle Wissenspraktiken“. Zunächst werde ich Fotografie als Übersetzung und Interaktion beschreiben, um zu zeigen, welche Handlungen hier stattfinden und welche (menschlichen und nichtmenschlichen) Akteure daran beteiligt sind. Über ihre Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit ist auch der komplexe Sozialisierungsprozess, der mit ihr einhergeht, unsichtbar geworden. Deshalb werde ich diese visuellen Wissenspraktiken anhand eines Beispiels aus meiner Feldforschung über digitale Bildpraktiken in der „Amateurfotografie“1 nachzeichnen, um zu zeigen, welches Wissen hier re-produziert wird. Im Anschluss daran möchte ich eine Perspektive auf eine Neubetrachtung von Visualisierung formulieren.
Fotografie als Übersetzung
Ähnlich wie eine Grafik oder eine Landkarte ist ein Foto eine Übersetzung. Auf einem Foto wird nicht die Realität eins zu eins abgebildet, vielmehr wird „Realismus“ mit Hilfe einer aufwändigen Abstraktion hergestellt. So konstatiert der US-amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary in seiner Genealogie des Betrachtens, dass die meisten weitverbreiteten visuellen Medien, „um ‚realistische‘ Effekte in der Sehkultur der Massen zu erzeugen, [...] tatsächlich auf einer radikalen Abstraktion und Neustrukturierung der optischen Erfahrung fußten“ (Crary 1996: 20). Am Beispiel der Landkarte, die der französische Seefahrer und Geograf La Pérouse 1876 im Auftrag Ludwigs des 16. von der südostasiatischen Insel Sakhalin anfertigte, beschreibt der französische Sozialwissenschaftler Bruno Latour einen solchen Übersetzungsprozess. Anhand der Karte sollte Wissen über die Geographie produziert, Schiffsrouten bestimmt und künftige Eigentumsverhältnisse festgelegt werden. Im Aussehen unterschied sie sich kaum von den Karten, die die chinesische Bewohner_innen der Insel produzierten, indem sie die Umrisse der Insel in den Sand zeichneten, jedoch in ihrer Transportier- und Übertragbarkeit. Diese stellen für Latour, neben den ökonomischen und politischen Interessen, die Voraussetzung dieser Aktion waren, deren entscheidende Merkmale dar. Auch eine ganze Reihe von Innovationen auf dem Gebiet der Aufschreibe-, Projektions-, Berechnungs- und Archivierungssysteme sind darin involviert, sowie Techniken, die in der Schifffahrt entwickelt worden sind, aber auch Reiseberichte (Vgl. Latour 2007: 5f.). Mit deren Hilfe wird die Abstraktion erst möglich: „The shift from the other senses to vision is a consequence of the agonistic situation. You present absent things. No one can smell or hear or touch Sakhalin island, but you can look at the map and determine at which bearing you will see the land when you send the next fleet. The speakers are talking to one another, feeling, hearing and touching each other, but they are now talking with many absent things presented all at once. This presence/absence is possible through the two-way connection established by these many contrivances — perspective, projection, map, log book, etc. — that allow translation without corruption“ (Ebd: 7). Es ist aber nicht allein der Übersetzungsprozess, der Latour hier interessiert, vielmehr ist es die Produktion von Wissen und Macht, die damit einher geht (Vgl. ebd: 6). Die Abstraktionstechniken, die die Fotografie produziert, sind kaum weniger umfangreich. Auch hier wird eine sinnlich wahrnehmbare, mehrdimensionale Welt
transformiert in ein flaches, standardisiertes papiernes Objekt.
Als Übersetzung charakterisiert auch der deutsch-brasilianische Philosoph Vilém Flusser die Fotografie und setzt sie damit der Philosophie gleich. Dabei geht er nicht vom Bild aus, wie es in vielen fototheoretischen Abhandlungen der Fall ist, sondern vollzieht die Geste – mehr fiktiv-modellhaft als empirisch - nach und weist ihr anschließend drei konstituierende Aspekte zu: Zunächst sucht sich der Fotograf – bei Flusser eindeutig ein männliches Subjekt – seinen Standpunkt, von dem aus er das Motiv abbildet. Danach erfolgt die Manipulation des Motivs durch den Fotografen, z.B. durch das Eingreifen in eine vorgefundene Situation. Schließlich betrachtet der Fotograf das Setting aus einer Distanz, um es nochmals zu beurteilen, bevor er den Auslöser betätigt. Diesen letzten Aspekt, sowie die chemisch-mechanischen bzw. elektromagnetischen Prozesse, die darauf folgen, betrachtet Flusser allerdings nicht mehr als der fotografischen Geste zugehörig (vgl. Flusser 1995: 104). Die drei Aspekte sind in ihrer Bedeutung für die fotografische Geste unterschiedlich gewichtet, so ist der zentrale und maßgebliche die Manipulation. Sie steuert letztlich die Wahl des Standortes, die sich in einer Bewegung des Fotografen durch den Zeit-Raum vollzieht. Dabei sind sein Körper und der Apparat so untrennbar miteinander verbunden, dass der eine dem anderen nicht unterzuordnen ist. Keiner von beiden ist als Werkzeug des anderen zu betrachten (vgl. Ebd: 108). Auch Subjekt und Objekt der Fotografie werden in dieser Geste von Flusser in enger Interaktion gedacht. Beide teilen dieselbe Situation, wobei die Aktion vom Fotografen ausgeht, während das Motiv – im Falle eines Porträts die fotografierte Person – darauf reagiert. Auch unbelebten Motiven wie etwa Landschaften weist Flusser (Re)Aktivität zu, indem sie den Fotografen zur Bewegung im Zeit-Raum bzw. zu bestimmten Manipulationen veranlassen. Denn „[d]er Mann mit dem Apparat ist nicht auf der Jagd nach reflektierenden Lichtern, sondern er wählt unter einem ihm verfügbaren Parameter spezifische Lichtstrahlen aus. Und er wählt sie nicht passiv wie ein Filter aus (obwohl man sogar bezweifeln kann, dass ein Filter passiv ist). Er greift aktiv in den optischen Prozess ein [...] Das Bild, das aus dieser Operation hervorgeht, wird nicht die Wirkung von Strahlen sein, wie sie durch die Objekte reflektiert worden wären, wenn der Fotograf nicht da gewesen wäre”
(Ebd: 110). Und schließlich bringt sich der Fotograf in die fotografische Situation mit ein durch die (Selbst)Reflexion, den distanziert-prüfenden Blick, der dadurch nicht nur der Kontrolle der Qualität des – noch virtuellen – Bildes dient (vgl. ebd: 113). Damit betont er nicht nur den Handlungscharakter und die Prozessualität der Fotografie, an Flussers fotografischer Geste wird deutlich, dass Fotografie nicht als eine singuläre Handlung eines fotografierenden Subjekts, sondern als – zeitlich und räumlich sich erstreckende - Assemblage von verschiedenen Akteuren betrachtet werden muss.
Legt man nun dieses Schema an die eingangs beschriebene fotografische Situation an, käme man auf vielleicht auf folgende Interpretation: die Fotografin – sich den männlichen Subjektstatus aneignend – bewegt sich zunächst im Zeit-Raum, um eine Perspektive zu finden, die ihrer Bildidee, ihrer Motivation entspricht. Das Zustandekommen dieser Motivation stünde hier nicht zur Diskussion, denn sie wäre nicht Bestandteil der fotografischen Geste. Die anschließende Manipulation ergäbe sich aus der Wahl des Zeitpunkts, die gleichzeitig eine Auswahl des Lichts, der Stimmung und des Motivs wäre. Im Verlauf dieses Tages ergeben sich so viele unterschiedliche Situationen und jede würde etwas anderes bedeuten. Ein letzter distanziert-prüfender Blick in den Sucher und mit dem Drücken des Auslöserknopfes wäre die fotografische Geste abgeschlossen. Alle Prozesse, wie die fotografische Sozialisation, der Erwerb des Wissens um den Raum und das dort stattfindende Ereignis, die Technik und alle Prozesse der Interpretation, Archivierung, Veröffentlichung und Betrachtung wären ausgeschlossen. Sie müssten getrennt werden von der „eigentlichen“ Fotografie. Doch das Beispiel zeigt, dass es sich nicht um ein einfaches „Abschneiden“ des Davor und Danach handeln könnte – wie man etwa die überflüssigen Teile eines Filmstreifens abtrennt. Da sie in der fotografischen Handlung eng miteinander verwoben sind, wäre ein sehr komplizierter chirurgischer Eingriff notwendig und das Resultat eine Verstümmelung. Die Operation von Flussers fotografischer Geste kann nur deshalb gelingen, weil sie bereits in Dichotomien angeordnet ist. Da Flusser von einem Geist-Körper-Dualismus ausgeht, wird die Körper-Apparat-Verbindung zum Objekt. Ebenso wird die fotografierte Umwelt objektiviert, da sie nur als Motiv aufgefasst wird. Indem der Medienphilosoph auch das Zeigen und Betrachten des Fotos und alle weiteren Bildhandlungen ausschließt, steht ebenfalls das Publikum dem fotografierenden Subjekt als Objekt gegenüber. Durch eine mikroskopische Betrachtung aller Handlungen und Handelnden in dieser Situation ergibt sich jedoch ein anderes Bild.
Fotografie als Interaktion
An meinem eingangs beschriebenen virtuellen Bild sind neben einer Fotografin eine (abwesende) Kamera, Veröffentlichungsmedien, ein virtuelles Publikum, ein realer Raum, ca. 50 Polizist_innen aus Bayern, ein politischen Ereignis, ein Forschungsprojekt, aber auch erinnerte Bilder von früheren Sicherheitskonferenzen, sowie der fortwährende Sozialisationsprozess in das fotografische Sehen beteiligt. Obwohl die meisten in das fotografische Sehen durch die alltägliche „Familien- und Urlaubsfotografie“ – um hier ein Stereotyp zu reproduzieren – sozialisiert sind, gehe ich davon aus, dass es einer weiteren Sozialisation in das „professionelle Sehen“ der Amateurfotograf_innen bedarf, wie es der US-amerikanische Anthropologe Charles Goodwin am Beispiel von Archäolog_innen bei der Arbeit im Feld analysierte: „It is an essential part of what it means to be an archaeologist [...] The relevant unit for the analysis of the intersubjectivity at issue here — the ability of separate individuals to see a common scene in a congruent, work-relevant fashion — is thus not these individuals as isolated entities, but instead archaeology as a profession, a community of competent practitioners, most of whom have never met each other, but who nonetheless expect each other to be able to see and categorize the world in ways that are relevant to the work, scenes, tools and artefacts that constitute their profession” (Goodwin 2000: 174). Sozialisierung verstehe ich dabei im Sinne der Ethnomethodologie als einen fortwährenden, niemals abgeschlossenen Prozess der „embodied practices“, also der Ordnungsleistungen, die uns in konkreten Handlungen als typische Methoden einverleibt sind und die wir durch unser Handeln verkörpern (vgl. Abels 2009: 104). Bedeutet das Erlernen des fotografischen Blicks zunächst eine Initiation in die Amateurfotografie, erfordert diese jedoch seine andauernde Aktualisierung in der Praxis. Das geschieht in der Interaktion mit „Motiven“, Bildern, technischen Apparaten und Betrachter_innen.
In meiner Feldforschung geht es mir darum, diesen Sozialisationsprozess nachzuvollziehen: Von Fotograf_innen habe ich mir bei gemeinsamen Fototouren, digitalen Bildbearbeitungen und Bildbesprechungen ihre Visualisierungspraktiken zeigen lassen. Dabei ging es mir weniger um das Mitteilen von Lehrbuchlektionen wie etwa die Komposition des Fotos nach bestimmten lichtbildnerischen Regeln, sondern um die Transformation des sinnlich wahrgenommenen Raums in ein Bild. Ein „Schlüsselerlebnis“ ergab sich bei meiner ersten Fototour im bayerischen Oberland, bei der ich drei Fotograf_innen begleitete:
„Eine ganze Weile stapfe ich orientierungslos suchend um die Hütte herum, auf der Suche nach Motiven. Während die drei immer neue Standpunkte einnehmen, ihre Stative aufstellen, ihre Kameras mit unterschiedlichen Objektiven bestücken, warten, überlegen, immer wieder einmal den Auslöser betätigten, und einander ihre Motive auf dem Suchermonitor zeigen, vergleichen, einander beraten, entdecke ich nichts weiter, was ich für fotografierenswert halte. Einige Schilder sehe ich, die mir in dieser Umgebung kurios vorkommen, die aber wegen des Lichtmangels nur verschwommene Bilder ergeben. Als der Ort ausgereizt zu sein scheint, gehen wir weiter auf dem Bohlenweg. Schon etwas verzweifelt sage ich zu Kirsten, wie fasziniert ich davon sei, dass alle Motive in einer Landschaft fänden, in der ich keine Einzelbilder entdecken könne. Ich fände einfach alles sehr schön, den Wald, die Atmosphäre, den Geruch... alles. Aber etwas speziell Interessantes, etwas, das ich fotografieren könnte, sähe ich nicht. Kirsten sagt geduldig: ‚Motive sind überall. Man muss sie nur sehen.’ Und das könne man auch lernen. Diese Landschaft mache es allerdings schwer. Sie deutet auf eine Birke, die etwas vereinzelt im Moos steht, und erklärt mir, was ich mit der Kamera machen soll. Beide schauen wir auf den Suchermonitor, um die Aktion zu überprüfen. Ich soll auf die Birke fokussieren und das Motiv anschließend aus der Mitte herausrücken – anhand des „kartesianischen“ Rasters auf dem Monitor sehe ich, dass sich der Baumstamm nun ungefähr im goldenen Schnitt befindet. Der Wald hinter der Birke soll nur unscharf zu sehen sein. Dadurch wirkt er undifferenziert, dunkel und flächig und die Birke hebt sich vor diesem dunklen Hintergrund eindeutig ab“ (Feldnotiz 12.4.2008).
Die Ergebnisse der Tour habe ich gemeinsam mit Kirsten an ihrem Rechner digital bearbeitet. Das Motiv wurde dabei nochmals durch weitere Operationen wie etwa Tonwertkorrekturen, Farb- und Kontrastangleichungen vereindeutlicht, d.h. vom Hintergrund abgehoben, um anschließend auf der Website der Fotogruppe veröffentlicht werden zu können. In einer weiteren Interaktion, der Bildbesprechung, wurde eine Auswahl der Bilder, die auf der Tour entstanden, gemeinsam diskutiert. Während dieses Gesprächs wurden Argumente und Kriterien über „gut gesehene“ Bilder ausgetauscht, Verbesserungsvorschläge eingebracht und Vergleiche zu bekannten Fotografien gezogen.
Visualisieren und Wissen
In diesen Lektionen habe ich einen der wesentlichen Aspekte von visuellen Wissenspraktiken gelernt, den ich hier exemplarisch skizzieren möchte: Die Distinktion von Motiv und Hintergrund. Michael Freeman, der Verfasser des viel rezipierten Lehrbuchs „Der fotografische Blick“ konstatiert bereits in einem der ersten Kapitel: „Wir sind darauf konditioniert, dass alles einen Hintergrund haben muss. In anderen Worten: Unsere normale visuelle Erfahrung setzt voraus, dass die meisten Szenen aus zwei Dingen bestehen: einem Motiv, auf das wir blicken, und einen Hintergrund, vor dem sich das Motiv befindet. Ein Element (das Motiv) ist wichtig und damit der eigentliche Grund für das Foto, während der Hintergrund einfach nur ‚da’ ist, um den Rest des Rahmens aufzufüllen“ (Freeman 2008: 46). Dieses Betrachtungsmuster, darauf weist Latour hin, entspricht einem kognitiven Muster. In meiner Aufnahme von der Birke im oberbayerischen Moor spiegeln sich demzufolge mehr als Bildkonventionen wider. An dieser Stelle will ich nochmals Flussers Skizze der fotografischen Geste anführen: Er entwirft ein Bild von einem Fotografensubjekt und dessen Bildobjekten, die in dieser Situation zum Hintergrund werden. Wie die US-amerikanische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway in ihrem Text „Situated Knowledge“ anführt, impliziert diese Konzeption von Vision2 eine binäre Opposition, die benutzt wird, „to signify a leap out of the marked body and into a conquering gaze from nowhere. This is the gaze that mythically inscribes all the marked bodies, that makes the unmarked category claim the power to see and not to be seen, to represent while escaping representation” (Haraway 1998: 188). Der “subjektive” Blick bezeichnet damit die Organisation von Wissen und mehr noch; durch die Trennung des sehenden und wissenden Subjekts von dessen Körper und von den Körpern der Anderen, entsteht auch eine hierarchische Machtbeziehung, die sie als militaristisch, kapitalistisch, kolonialistisch und patriarchal charakterisiert: “all perspective gives way to infinitely mobile vision, which no longer seems just mythically about the god-trick of seeing everything from nowhere, but to have put the myth into ordinary practice. And like the godtrick, this eye fucks the world“ (Haraway 1998: 189). Deshalb schlägt Haraway als feministische Strategie verkörperte, situierte Wissen (im Plural) vor, die die Welt partiell organisieren: „The ‚eyes‘ made available in modern technological sciences shatter any idea of passive vision; these prosthetic devices show us that all eyes, including our own organic ones, are active perceptual systems, building in translations and specific ways of seeing, that is, ways of life. There is no unmediated photograph or passive camera obscura in scientific accounts of bodies and machines; there are only highly specific visual possibilities, each with a wonderfully detailed, active, partial way of organizing worlds“ (Haraway 1998: 190). Eine Forderung, die die US-amerikanische Ethnologin Lila Abu-Lughod (1996) auch für den ethnografischen Blick aufgestellt hat.
Literatur
Abels, Heinz (2009): Ethnomethodologie. In: Kneer, Georg; Schroer, Markus (Hg.): Handbuch soziologische Theorien. Wiesbaden: 87–110.
Abu-Lughod, Lila (1996): Gegen Kultur Schreiben. In: Lenz, Ilse; Germer, Andrea; Hasenjürgen, Brigitte (Hg.): Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen (Geschlecht und Gesellschaft.1):14–46.
Amann, Klaus/ Hirschauer Stefan (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, Stefan (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: 7–52.
Crary, Jonathan (1996): Techniken des Betrachtens. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein. Dresden.
Flusser, Vilém (1995): Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim.
Freeman, Michael (2008): Der fotografische Blick. Bildkomposition und Gestaltung. München.
Goodwin, Charles (2000): Practices of Seeing. Visual Analysis: An Ethnomethodological Approach. In: Leeuwen, Theo van/ Jewitt Carey (Hg.): The handbook of visual analysis. London: 157–182.
Haraway, Donna J. (1998): Situated Know-ledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Haraway, Donna J.: Simians, cyborgs, and women. The reinvention of nature. London: S. 183–201.
Latour, Bruno (1986): Visualisation and Cognition: Drawing things together. Online verfügbar unter http://www.bruno-latour.fr/articles/article/21-DRAWING-THINGS-TOGETHER.pdf, zuletzt aktualisiert am 01.04.2007, zuletzt geprüft am 18.04.2010.
Anmerkungen
1 Hierbei handelt es sich um mein Dissertationsprojekt. „Amateurfotografie“ beschreibt einen Diskurs und eine Praxis des Fotografierens und keine Analyse- oder Bewertungskategorie.
2 Wobei der Begriff „Vision“ auf einen größeren Bedeutungsumfang hinweist. Neben dem „Sehen“ bezeichnet er auch Vorstellung und Leitbild.