Das Dilemma der Gleichheit
Mit Gleichheit fokussiert die vorliegende Ausgabe des Kuckucks einen Begriff, der in den letzten Jahren meist einzig hinsichtlich seines Spiegelbildes ‒ der Ungleichheit ‒ thematisiert wurde. Sowohl in kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung als auch in politisch-aktivistischen Kontexten werden gesellschaftliche Selbstverständnisse vor allem in Abarbeitung an identitätspolitischen und auf dem Konzept der Differenz basierenden Ansätzen diskutiert. Die damit verbundenen, häufig aufgeregten Debatten verlieren zugleich an Überzeugungskraft, was sich nicht zuletzt an kritischen Stimmen zum ausschließlichen Fokus auf Identitätspolitiken in Aktivismus und Forschung zeigt. Auch Alltagskulturwissenschaftler_innen und Kulturanthropolog_innen verwenden Unterschiedlichkeit nicht zuletzt qua Routine als Linse des analytischen Blickes und orientieren sich an intersektionalen Achsen der Differenz. Dieses Heft stellt einen Versuch dar, Themen von der anderen Seite her anzugehen: der Gleichheit.
Zwischen Gleichsein und Gleichmachen, den gleichen Rechten und dem (immer) Gleichen beschäftigt sich das Heft mit der Wiederholung, dem Reproduzieren, dem Austauschbaren, der Konformität, dem Kollektiven und der Übereinstimmung. Vorstellungen von Gleichheit – so zeigte sich schon in der Konzeption des Heftes und der Breite und Unterschiedlichkeit der angefragten Texte – sind höchst ambivalent, verweisen auf Utopien oder Dystopien und sind untrennbar mit Wertzuschreibungen und politisch-moralischen Haltungen verbunden.
Durch die vorliegende Ausgabe schimmert ein Begriff, der schon Mitte der 1990er Jahre Heftthema des Kuckucks war: Universalität. Die Wiederholung des Themas mit leicht anderer Ausrichtung verwundert nicht. Schon im Editorial zur Ausgabe 1/95 schrieb Johannes Moser vom „Bedürfnis ethnologischer Disziplinen […], sich diesem Thema zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu widmen“i. Das „kulturanthropologische Dilemma“ii scheint sich heute angesichts sich verändernder globaler Kräftegewichte, einer zunehmenden Renationalisierungiii und einem sich vergrößernden Fragezeichen hinter den Ideen von Europa und europäischer Werte noch einmal zuzuspitzen. „Wie“, so fragte Johannes Moser damals, „geht unsere Wissenschaft mit dem Dilemma von Gleichheit (z.B. des Anspruchs auf Menschenrechte) und Differenz (der Kulturen) um?“iv
Ein ähnliches, wenn auch etwas anders gelagertes Dilemma durchzieht das Konzept Gleichheit. Wie ist wissenschaftlich mit dem Dilemma von dystopischer Gleichheit (z.B. in der Form von Disziplinierung und Normierung) und utopischer Gleichheit (z.B. des Anspruchs auf Rechte – auf Stadt, Staatsbürgerschaft, Teilhabe) umzugehen? Die Ambivalenz besteht demnach in einer Polarisierung zwischen einer Entfremdung hervorrufenden Gleichheit als Abstraktion und als moderne Zurichtung des Menschen einerseits und einer an Gleichstellung und Rechten orientierten Gleichheit als Emanzipation andererseits. Je nach Perspektive ändert sich auch die moralisch-politische Beurteilung: Gleichheit und Universalität als westlich-kapitalistischer Imperialismus, welcher Differenz und die Kontextabhängigkeit von Wissen und Handeln verkennt, einerseits; Differenz und Relativismus als Verkennung sozialer Ungleichheit und als Einfallstor eines kulturellen Rassismus, welcher jegliche Gleichheit aberkennt, andererseits.
Die Vielschichtigkeit des Gleichen und Ambivalenzen der Gleichheit zeigen sich auch in den Perspektiven und Inhalten der versammelten Beiträge dieser Ausgabe.
Die Falle, Gleichheit nur als Abstraktion und Entfremdung zu denken, zeigt der Philosoph Georg Lohmann in seinem Beitrag zur Geschichte und Konzeption der Menschenrechte auf. Interpretierte Karl Marx Gleichheit als ökonomische Kategorie und als Norm und Basis des Kapitalismus, welcher den Menschen und dessen Arbeitskraft in seinem Tauschwert und als Ware gleichmacht, galten ihm in Folge die Menschenrechte als bürgerliche, d.h. individuelle und auf Eigensinn abzielende Rechte. Lohmann stellt dem die „erkämpften Gleichheiten“ gegenüber, welche aus den Kämpfen sozialer und politischer Bewegungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hervorgegangen waren und auf die sich bis heute Forderungen nach gleichen Rechten beziehen. Vor allem die Menschenwürde stellt er dabei als wirkmächtige Kategorie im Kampf um Gleichheit heraus.
Dass die Rede im Namen der Gleichheit aber keineswegs auch Gleichheit generieren muss, zeigt Yuca Meubrink in ihrem Beitrag zur Modalität der Wohnungslotterie in New York auf. Sie setzt diese in den Kontext des american dream als eine Ideologie der Gleichheit und besonders signifikantes Narrativ des a priori Gleichseins. Wo der american dream auf Differenz durch Anstrengung abzielt, wird in der Wohnungslotterie das Hervorheben einzelner aufgrund von Glück suggeriert. Gleich ist beiden die vorgebliche Chancengleichheit, die aber spätestens an den Tischen der Bürokratie infrage gestellt wird. (Chancen)Gleichheit begegnet uns hier als verschleiernde Ideologie im Feld des großstädtischen Wohnens, das starke, alltäglich äußerst wirkmächtige Differenzen schafft.
Libuše Hannah Vepřek beschäftigt sich mit Werteinschreibungen in digitale Daten im Falle sogenannter datenbasierter Polizeiarbeit. Sie zeigt auf, wie diese als eine Option zur „neutraleren“ Tätereinschätzung proklamiert wird und dennoch zugleich spezifische Differenzierungen und Erwartungen eingeschrieben hat. Das Versprechen von Gleichbehandlung durch die Verwendung von Big Data wird begleitet von neuen Differenzierungen, die die datenbasierte Polizeiarbeit mit sich bringt. Das Dilemma von Gleichbehandlung im Sinne von Neutralisierung einerseits und Generalisierung andererseits bleibt bestehen.
Das Verhältnis von Entfremdung und Emanzipation wird im Beitrag von Tilman Baumgärtel auf ganz andere Weise zum Thema. Er skizziert die Geschichte des Loops – also von Schleifen – als ästhetische Methode der repetitiven Wiederholung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Scheinen Loops auf den ersten Blick (oder das erste Hören) auf der monotonen Wiederholung des Gleichen zu basieren, zeigt Tilman Baumgärtel, dass dies in ihrer ästhetischen Wirkung gerade nicht der Fall sein muss. Künstler_innen versuchen der als unmenschlich geltenden, exakten technischen Wiederholung (einer Kultur der Moderne) durch minimale Variationen „Organisches“ zu vermitteln und damit die Maschine wieder stärker in einen Menschen zu verwandeln. Hörer_innen dagegen produzieren solche Differenzen in ihrer eigenen Wahrnehmung selbst.
Waren in Stadtforschungen der letzten Jahre Besonderungsansätze – etwa in Konzepten wie Habitus und Eigenlogik der Stadt oder dem Fokus auf die Spezifika des Einzelfalles – ein vielfach gewählter Zugang zur Stadt als kulturellem Phänomen, bricht der Beitrag der Geographin Susanne Heeg mit dieser Perspektive und fokussiert das Gleichwerden der Städte durch Globalisierung von Design und Architekturstilen sowie Finanzinvestitionen. Susanne Heeg skizziert die teilweise Angleichung der Innenstädte als Ausdruck von Städtekonkurrenz und globalen Immobilienhandels – Innenstädte stellen damit ein Musterbeispiel für Gleichheit als kapitalistische Wertabstraktion dar.
Wie sehr die Beschäftigung mit Gleichheit über die Analyse von Ungleichheitsbeziehungen verläuft, wird im ethnographischen Beitrag von Esther Gajek, Irene Goetz, Alex Rau und Petra Schweiger deutlich. Aus kapitaltheoretischer Perspektive im Sinne Pierre Bourdieus beschreiben und deuten sie die Gleichheit im gehobenen bürgerlichen Milieu und wie diese im Laufe biographischer Entwicklungen aufbricht. Die erfahrene Differenz zu den Freundinnen hinsichtlich ökonomischer Ausstattung bringt wiederum Strategien der Distinktion und Selbstbehauptung mit sich.
Wolfgang Peball zeigt am Beispiel der rechtsextremen Identitären Bewegung, welche politische Strecke Begriffe wie Identität und Differenz in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt haben und welche Funktion sie in neuen rassistischen Ideologien wie dem Konzept des Ethnopluralismus erfüllen. Der Beitrag zeigt damit nicht zuletzt die Gefahren einer starr und quasi-naturalistisch gedachten Pluralität, die als Anti-Universalismus Gleichheit grundsätzlich verunmöglicht und schließlich keiner Anerkennung des Anderen und der Infragestellung der eigenen Perspektive dient, sondern unüberwindbare – und zudem willkürliche, weil höchstselektive – Grenzen zwischen Menschen behauptet und einziehen will.
BDSM als Beziehungsgefüge, in dem die Ungleichheit der beiden Partner_innen Teil eines außeralltäglichen Spieles wird, nimmt Mateja Marsel in den Blick. Obwohl ungleiche Machtverteilung konstitutiv ist, treten in Interviews mit BDSM-Akteur_innen dennoch Fragen der Gleichheit im Sinne von Ebenbürtigkeit und konsensueller, gemeinsamer Entscheidung auf. Der Inszenierung von Ungleichheit liegt dementsprechend ein Ideal von Gleichheit im Sinne partnerschaftlicher Ebenbürtigkeit zugrunde.
In der Kurzgeschichte der Autorin und Dramatikerin Magdalena Schrefel steht die Gleichbehandlung vieler in einer wartenden Menschenschlange in Zusammenhang mit Kontrolle, Macht und Entmenschlichung bei gleichzeitiger Gerechtigkeit und Ordnung. Die Egalisierung der Wartenden entwickelt sich dystopisch, bis zum Umkippen der Ordnung.
Das Kunstinsert stammt von David Kröswang, welcher in seinen Zeichnungen auf unterschiedliche Weise Bezüge und Formen von Übereinstimmung, Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit aufgreift und die Ambivalenzen auch in der Wahrnehmung von Gleichheit anschaulich macht. Vermitteln die gleichen, digital wiederholten, aber verschobenen, analog gezeichneten Bäume durch die minimale Variation etwas Organisches, fügen sie sich zum Wald? Wird dem universalen und in Massen reproduzierten Plastikstuhl in der ästhetischen Besonderungsform des Porträts eine Aura verliehen? Und welche Lust liegt in der Beobachtung der Gleichheit als Präzision etwa im Synchronspringen? Die Arbeiten von David Kröswang regen zum weiteren Nachdenken über Gleichheit an und zeigen, dass das Thema mit dem vorliegenden Heft noch weit nicht abgedeckt ist.
Laura Gozzer
Georg Wolfmayr