Katharina Eisch-Angus
Wozu Feldnotizen?
Die Forschungsniederschrift im ethnografischen Prozess
Die Alltagskultur der Sicherheit ist ein weites Feld. Wie und gegen welche Unsicherheiten sich Menschen absichern und wie sie dies kommunizieren, aber auch die Frage, wie die Rhetoriken und Begrifflichkeiten der Sicherheit auf das tägliche Leben einwirken, begleitete mich über viele Jahre hinweg als Feldforscherin und Ethnografin.[1] Dabei war mir auf den Reisen in mein südwestenglisches Forschungsfeld, ebenso wie auf meinen täglichen Gängen in der Stadt Lymeston[2] und auf Fahrten zwischen meinen Forschungsorten aufgefallen, wie vehement Schilder – Wegweiser, Warnschilder, Vorschriftstafeln – versuchen, für die Sicherheit von Passanten, Passantinnen und Passagieren zu sorgen und wie sie unsere Reisewege und alltäglichen Umgebungen mit Zeichen der Sicherheit durchsetzen.
Als ich mich an einem Januarmorgen 2009 von Lymeston aus auf den Weg nach Bristol mache, um an der dortigen Universität einen Tag in der Bibliothek zu verbringen und mich mit einer Kollegin zu treffen, beginne ich, den Schilderwald zu fotografieren, der mich auf einer Rampe hinunter zu einer kleinen Bahn-Haltestation begleitet. In der Forschungspublikation heißt es dazu: „So wiederholt sich an allen Lampenpfosten, die die Rampe säumen, die Anordnung ‚No Cycling’. Unter dem Fahrradverbotsschild deutet jeweils ein Schild ‚Caution. Please take care’ eine unbestimmte Fürsorglichkeit an, neblig wie die diesige Stimmung dieses Morgens. Konkreter ist die Warntafel ‚Please keep back from the platform edge’, die sich auch in Kombination mit den großen Stationsschildern […] findet. Noch vor Erreichen des Fahrkartenautomaten auf dem Bahnsteig, in grellem Gelb, mit einer Bußgeldandrohung und voll mit Kleingedrucktem, herrscht schließlich ein großes Schild die Passanten an: ‚WARNING. Have you paid?’[3] Die Schilderbotschaften erscheinen mir laut und penetrant in der Weise, in der sie die Fahrgäste auf ihre Sicherheit aufmerksam machen und dies mit administrativer Kontrolle verbinden. In der Düsternis und der klammen Kälte dieses Morgens tritt dieser Eindruck nur umso stärker hervor. Trotzdem scheine ich die Einzige zu sein, die diese Warnungen vor Lebensgefahr und Strafe überhaupt bemerkt, die Beschriftungen und Kleingedrucktes liest, Anschlagtafeln und Schaukästen beachtenswert (und fotogen) findet. Bis der Zug kommt, lehne ich mich an eines der Wartehäuschen und beobachte, wie immer mehr Menschen die Rampe herunterkommen und wartend, eingehüllt in ihre Winterjacken, manche mit hochgeschlagenen Krägen oder eng am Körper verschränkten Armen, auf dem Bahnsteig stehen bleiben. Manche kauern auf einem der Metallsitze im Wartehäuschen. Nur wenige lösen eine Fahrkarte, offenbar sind die meisten Berufspendlernnen und –pendler, Auszubildende oder Studierende, die für ihren täglichen Weg in die Großstadt eine Dauerkarte haben. Die Stimmung ist verhalten, es wird kaum gesprochen, nur die Jüngeren checken ihre Handys und tippen Textnachrichten ein.[4]
Wahrnehmung und Distanz
Diese Szene scheint so alltäglich und unbedeutend, dass sich eher die Frage stellt, was daran meine forschende Aufmerksamkeit erregt haben könnte – erst recht, da auch ich mich auf einer beruflichen Routinefahrt zur Universität befand. Eingebettet in den Kontext meiner laufenden Feldforschung, die mich bereits auf Sicherheits-Beschilderungen aufmerksam gemacht hatte, waren es zwei Irritationen, die an diesem Morgen den Anstoß zu meiner Teilnehmenden Beobachtung gaben: Während ich einerseits die Dichte der Beschriftungen und Piktogramme, die an der Haltestation an die Aufmerksamkeit und das Sicherheitsbewusstsein der Fahrgäste appellierten, als aufdringlich und absurd empfand, schien mir andererseits die selbstverständliche Unaufmerksamkeit der von den Schildern angesprochenen Pendlerinnen und Pendler in deutlichem Kontrast dazu zu stehen. Um dies jedoch als Besonderheit wahrnehmen zu können, musste ich selbst aus der Routinehaftigkeit der Situation heraustreten. Erst diese naive Aufmerksamkeit, die – angestoßen durch mein Forschungsthema – die Schilder quasi beim Wort nahm und die morgendliche Szene so betrachtete, als ob ich ihr zum ersten Mal begegnete, erlaubte mir, mit allen Sinnen die Atmosphäre dieser etwa fünfminütigen Wartezeit wahrzunehmen: die Stille, die Kälte, den Nebel, die schweigenden Reisenden, die sich, jeder und jede für sich, in ihre Gedanken, ihre Müdigkeit und manchmal auch ihre Handys zurückzogen.
Auf diese Weise wird Alltagsraum zu ethnografischem Forschungsraum. Dieser ist geprägt von einer Haltung ‚interesselosen Interesses‘ der Forscherperson, einer ambivalenten Bewegung der Zuwendung, deren Voraussetzung die Distanz ist. Ein vertrauter Ablauf wird uns fremd, um ihn als Ethnografinnen und Alltagskulturforscher neu und anders wahrnehmen und verstehen zu können. Diese methodische Distanzierung gelingt umso leichter, je fremder und unbekannter ein Forschungsfeld (in meinem Fall die fremdsprachige Umgebung einer englischen Stadt) ist. Demgegenüber bedarf es der bewussten Verfremdung des Feldes umso mehr, je mehr wir uns als Europäische Ethnologinnen und Ethnologen mit unseren unbefragt eigenen Alltagsnormalitäten beschäftigen.
Die Ordnung der Wahrnehmung
In diesem ersten wahrnehmenden Zugehen auf die Alltagsräume des Felds lässt sich noch kaum abschätzen, ob und inwiefern eine Beobachtung letztendlich forschungsrelevant ist. Unabhängig davon will sie zunächst einmal bewusst memoriert werden; dabei können ein Notizblock, eine Fotokamera oder auch das Handy helfen, bereits innerhalb der Forschungssituation Beschriftungen, Bildeindrücke und Stichworte als Gedächtnisstütze für die Niederschrift im Feldtagebuch festzuhalten. Manchmal ergibt sich gleich anschließend (wie z.B. auf der Zugfahrt nach Bristol oder nach der Ankunft an der Universität) die Möglichkeit, das Beobachtete im Forschungstagebuch aufzuzeichnen. In jedem Fall muss dies zeitnah erfolgen und zu einer Forschungsroutine werden, für die regelmäßig an den Abenden oder in ruhigen Forschungspausen Zeit eingeräumt wird. Die Niederschrift wird handschriftlich auf Papier (also als klassisches Tagebuch) oder digital auf dem PC oder Laptop angefertigt, je nachdem, ob es der langsame, intensive Prozess des Schreibens per Hand oder das rasche Eintippen der Forscherin einfacher macht, ihre Feldwahrnehmungen im Gedächtnis aufzurufen und sie nacheinander in Worte und Sätze zu fassen.[5] Jeder Eintrag muss zu Beginn der Niederschrift datiert und lokalisiert werden. Darüber hinaus ist es wichtig, neben atmosphärischen Erinnerungen auch alle Sachinformationen und Daten festzuhalten, die (von Beschriftungen bis hin zu Personeninformationen oder Rahmenbedingungen beobachteter Vorgänge) für die weitere Forschung, die Auswertung des Feldmaterials und die Darstellung der Forschungsergebnisse (sowie ggf. für wörtliche Zitate) benötigt werden.
Während des Schreibens ordnet sich das Forschungsfeld: Willkürliche Ausschnitte aus dem Fluss des Alltagsgeschehens erhalten einen Anfang und ein Ende, auf der ‚Bühne‘ unseres Feldtagebuchs wird das räumliche Umfeld der Beobachtung ebenso greifbar wie ihr zeitlicher Ablauf. Erinnerungslücken und Unsicherheiten etwa bezüglich der Reihenfolge von Ereignissen sollten ebenso angemerkt werden wie Müdigkeit und andere Einflüsse auf die Niederschrift. Außerdem fließen sinnliche Wahrnehmungen im Feld mit ein, (scheinbar) Unbedeutendes, das uns gleichwohl aufgefallen ist, Irritationen und Beunruhigungen – wie überhaupt die Gefühlswelt der Forscherin keinesfalls ausgeklammert werden sollte. Im Forschungstagebuch ist alles erlaubt, denn wie jedes Tagebuch ist es eine private Niederschrift, in der wir uns ‚freischreiben‘ von allem Bedrängenden des Feldes. Darüber hinaus kann das spontane und vor-analytische Niederschreiben von Gefühlen, Abneigungen und Überdruss, Vorurteilen, Fantasien und Begeisterung eine emotionale Signatur des Felds sichtbar machen, aus der sich wichtige kulturelle Indizien für die spätere Analyse gewinnen lassen. Dabei sind die Möglichkeiten der Ausgestaltung von Forschungsniederschriften so individuell wie die Forschenden selbst: Während manche an einem beinahe fotografischen Bildgedächtnis entlang schreiben, werden andere atmosphärische Texte schaffen oder holzschnittartige Szenen zeichnen und dabei jeweils unterschiedliche Aspekte des Felds zum Vorschein kommen lassen.
Diese Forschungstexte müssen keineswegs als singuläre Zufallsbeobachtungen stehen bleiben; stattdessen können auch nebensächlich oder umwegig scheinende Beobachtungen forschungsleitende Relevanz entfalten, wenn im laufenden Wieder-Lesen und Reflektieren des Forschungstagebuchs ihre kontextuellen Bezüge zu anderen Feldniederschriften verfolgt und einbedacht werden. So wurde ich durch weitere Niederschriften von Beobachtungen auf Bahnreisen dazu angeregt, mein ausuferndes Thema auf mobilitätsbezogene Alltagsräume zu fokussieren. Auf Bahnhöfen und in Zügen, ebenso wie auf Flughäfen, lernte ich auch zu verstehen, wie eng im Sicherheitsbewusstsein gegenwärtiger Alltagskultur die Aspekte der persönlichen Absicherung gegen Unfälle oder Eigentumsverlust mit denen der staatlichen Terrorismusprävention verklammert werden. Beispielsweise notierte ich im Anschluss an eine andere Bahnfahrt nach Bristol eine der routinemäßigen Ansagen, die ich mir im Zug eingeprägt hatte – zusammen mit der Reaktion von Passagieren, als der Zugführer unerwartet sein Skript verließ und darauf hinwies, dass der Zugschaffner nicht mit einem Terroristen zu verwechseln sei: „Im Zug, vor der Einfahrt in Bristol Temple Meads eine lange Durchsage: [...] Diejenigen, die aussteigen sollen bitte nichts zurücklassen, ‚please take care when you step onto the platform.’ Der Zug fährt weiter in Richtung Westbury, ‚for your security’ sind ‚television’ cameras im Zug installiert, bitte kein ‚unattended luggage’ im Zug zurücklassen, bitte auf ‚suspicious objects’ achten, oder auf ‚suspicious persons – this is not your conductor’. Ich bemerke den Witz erst, als zwei Mädchen auf dem Sitz vor mir zu lachen anfangen.“[6]
Hier nun durchbricht ein humorvoller Seitenhieb auf den allgegenwärtigen Terrorismusverdacht die alltägliche Unaufmerksamkeit der Bahnreisenden und wirft die Frage auf, welches Licht dieser Zwischenfall auf die (prinzipiell humorlose) Dominanz staatlich-institutioneller Security und die sonst so passiven Reaktionsweisen der Alltagsmenschen werfen könnte.
Jedenfalls ist eine prozessuale Feldforschung, die aufmerksam solchen Verweisungen und ihren Fragen folgt und diesen Weg fortlaufend im Forschungstagebuch festhält, unabdingbar für eine Forschung, der es um ein Verstehen von Alltagskultur, um Entdeckungen des Unbekannten anstelle der Bestätigung vorgewusster Prämissen geht.[7] Auf diese Weise können wir sukzessive eine Forschungsfrage eingrenzen, die Feldforschung auf forschungsrelevante Orte und Institutionen, Kontaktpersonen, Erzählmotive und argumentative Topoi lenken, und uns neue Bedeutungsdimensionen des Feldes über immer neue Fragestellungen erschließen (ohne dass dieser Prozess jemals abgeschlossen wäre und nicht stets noch weitere Fragen öffnen würde).
Als mich an jenem Januartag meine Kollegin Rebecca[8] vom Zug abholte, lernte ich solchermaßen, wie sehr im Kollektiven Gedächnis Großbritanniens das Bewusstsein terroristischer Bedrohung mit Bahnhöfen und Zügen verknüpft ist. Abends notierte ich ins Feldtagebuch: „Rebecca fragt mich intensiv nach der Forschung, im Auto, in ihrem Büro, dann beim Lunch. Eine Assoziation, die ganz schnell noch im Auto kommt, ist die mit dem Umgang mit Terror, dass Bahnhöfe keine Papierkörbe haben – seit IRA-Zeiten!”[9] Noch während dieser Niederschrift konnte ich eine Querverbindung zu einer Bemerkung meines Mannes bei unserer Anreise ebenfalls am Bahnhof in Bristol herstellen, die bestätigte, wie sehr der Bezug zwischen Bahnhöfen und dem Nordirlandkonflikt gewohnheitsmäßig im Alltagsverhalten normalisiert ist: „Als er fertig ist mit seinem Kuchen, steckt er das Papier ein. Es gebe keine Papierkörbe auf Bahnhöfen. Warum? Seit den ‚Troubles’ nicht, damals wurden sie alle entfernt – weil in Papierkörben Bomben versteckt sein könnten. Die Leute hätten sich seitdem einfach daran gewöhnt, meint er.”[10]
Der Dialog mit dem Feld
Spätestens hier wird sichtbar, dass Feldforschung keinesfalls als einseitiges Beobachten einer unbeteiligten Forscherperson denkbar ist, sondern aus einem fortlaufenden Dialog mit dem Feld erwächst. Daraus ergibt sich die besondere Funktion des Feldtagebuchs, informelle Gespräche festzuhalten, die sich meist ungeplant über die Forschungsthematik ergeben. Die obigen Beispiele zeigen, wie wichtig die Offenlegung des Themas in diesen Dialogen ist, um in längeren oder wiederholten Begegnungen weitere Wegweisungen zu erhalten und gemeinsam, unter Einbezug unterschiedlicher (z. B. nationaler, geschlechts- und generationsbedingter) Perspektiven der Gesprächspartnerinnen und ‑partner mögliche Verständnisweisen des Felds zu erarbeiten. Ohnehin ist aus forschungsethischen Gründen eine gezielte, verdeckt durchgeführte Feldforschung zu unterlassen, jedenfalls dann, wenn bereits persönliche Forschungsbeziehungen mit Feldangehörigen entstanden sind und die aufgezeichneten Beobachtungen oder Gespräche über das hinausgehen, was sich ungeplant, für jedermann und jederfrau sichtbar und hörbar im öffentlichen Raum zeigt.[11]
Durch diesen Prozess ständigen Nachfragens entstand in meinem mehrwöchigen Feldaufenthalt in jenem Winter eine Art Forschungsnetzwerk, innerhalb dessen im Austausch über meine Forschung immer wieder meine Vermutungen und Schlussfolgerungen bestätigt, erweitert, relativiert oder konterkariert wurden. So reagierte eine Gesprächspartnerin auf meine aktuellen Forschungsfragen mit dem spontanen Ausruf: „Then you must look at trains“, um fortzufahren mit einer Beschwerde über die als Bevormundung empfundenen Sicherheitsreglements in Zügen und die ständigen Durchsagen etwa zu unbeaufsichtigten Gepäckstücken: „Surely, we are a nanny society.”[12] Anschließend erzählte sie, wie sie selbst am Tag der Londoner Terroranschläge des 7. Juli 2005 im Zug nach London gestoppt worden sei und beobachtet habe, wie die Mitreisenden sich stoisch weigerten, auf den Bruch ihrer alltäglichen Erwartungssicherheit durch die Terroranschläge zu reagieren: „Ella beobachtete, wie die Menschen das Eintreten eben jenes Ernstfalles terroristischer Anschläge nach 9/11, auf den uns doch die Sicherheitsdiskurse vom Flughafen bis in unsere privaten Alltagsvollzüge hinein einstimmen, nicht wahrhaben wollten. Sie taten weiterhin einfach das, was sie auf ihren Alltagsfahrten auch sonst tun: Sie blieben sitzen, ohne miteinander zu reden, telefonierten mit ihren Handys und warteten aufs Weiterfahren.”[13] Diese Geschichten, die Feldangehörige in Gespräche und Interviews einflechten, sind besonders aussagekräftige Elemente der Feldforschung. Wie die selbstbewusste Lehrerin schließlich ihre Ausflugspläne aufgab, den Zug verließ und sich auf eigene Faust auf die Rückreise machte, hatte ich zuvor schon in einem Interview mit ihr zu hören bekommen: Für sie war die Geschichte zu einem persönlichen Exempel ihres Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft geworden. Für meine Forschung ergaben sich daraus nicht nur Aufschlüsse auf kollektive Gedächtnisbezüge zwischen dem IRA-Terrorismus des späten 20. Jahrhunderts und den Anti-Terrormaßnahmen des frühen 21. Jahrhunderts am Knotenpunkt des Bahnverkehrs, sondern auch Hinweise darauf, wie die Normalisierung und Privatisierung aktueller Sicherheitsregime innerhalb des britischen Forschungsfeldes reflektiert werden. Darüber hinaus aber konnte Ella im ausführlicheren Interview durchaus auch ein empathisches Verständnis für die handlungsunfähigen Mitreisenden zum Ausdruck bringen, die sich im passiven Rückzug gegen das albtraumhafte Realwerden der Terrorgefahr abschotteten, die zu ignorieren man auf unzähligen Alltagsfahrten eingeübt hatte: „Because you look out of the window, perfectly nice day, sun is shining, so peaceful, there are chicken on the station, all having a coffee, everything is perfectly normal, apart from the fact that you have been given this information that there is a gold alert up in London. I mean the biggest pain in the neck is to be stuck […], and they wouldn’t get anywhere – just a nightmare.”[14]
Auf diese Weise fügen sich auch ethnografische – themenzentrierte und narrative – Interviews in das vielstimmige und multi-perspektivische Gefüge einer Feldforschung ein. Im Interview können die Beforschten dezidiert ihre Erfahrensweisen den Perspektiven der Forschenden gegenüberstellen, in einer geplanten Forschungssituation, die außerhalb der ‚natürlichen’ Alltagsabläufe des Forschungsfelds steht. Zugleich bedarf das Interview der Einbettung in die Teilnehmende Beobachtung und deren Reflexion im Forschungstagebuch. Hier nun können alle Informationen einfließen, die das Interviewtranskript verschweigt: Dies reicht von den Kontexten der Anbahnung des Interviews und des Gesprächseinstiegs[15] bis hin zu Inhalten, die erst nach dem Ausschalten des Aufnahmegeräts erzählt wurden. Entsprechend sollten alle Interviews von ausführlichen Tagebucheinträgen begleitet und Interviewtranskripte nur in Zusammenhang mit diesen Niederschriften ausgewertet und interpretiert werden.
Feldforschung entfaltet sich in der Interaktion, ihr Erkenntnismedium ist die Subjektivität, über die wir Zugang zum Alltagserleben und zur Erfahrung anderer Menschen erhalten. In das Feldtagebuch gehen daher nicht nur Begleitumstände und Störungen der Interviewsituation mit ein, sondern auch die Gefühlsreaktionen der Forscherin in der Interviewbeziehung. Solche Reaktionen der Abwehr oder auch der Idealisierung des Gegenübers können nicht nur den Blick verstellen und die Forschungsergebnisse verzerren, solange sie unausgesprochen im Raum stehen bleiben, sondern sie bieten im weiteren Verlauf von Forschung und Interpretation wesentliche Hinweise auf kulturell verankerte Symbolisierungen und Rollenbilder (wie sie etwa eine älterere britische Lehrerin einer jüngeren, deutschen Forscherin und Kollegin entgegenbringt – und umgekehrt).
Die Deutung im Kontext
Solchermaßen konnten die Forschungsniederschriften, die ich zu meinen Beobachtungen in Zügen und auf Bahnsteigen in England, ebenso wie zu Zufallsgesprächen mit Feldangehörigen anfertigte, in Bezug zueinander gesetzt werden und in Relation zu Interviews und weiteren Feldbeobachtungen, die das Motivcluster von Bahnverkehr, institutionellen Sicherheitsreglements, alltäglicher Mobilität und Terrorismus berührten, Bedeutung erlangen.[16] Für eine derartige kontextuelle Deutung von Feldforschungsmaterialien erfüllt das Tagebuch wesentliche Ausgangsvoraussetzungen. Durch ihre Niederschrift und Datierung werden Wahrnehmungen, Gespräche und Geschichten aus dem unübersichtlichen und zufallsbestimmten Fluss des Feldgeschehens als Quellen fixiert, die im situativen Kontext der beschriebenen Feldsituation und über ihre zeitliche Verortung im Forschungsprozess interpretierbar sind. Zugleich bedeutet die schriftliche Niederlegung unterschiedlicher Standorte und Feldperspektiven auch eine Öffnung insofern, als sie das differenzierte Alltags- und Erfahrungswissen der Beforschten gegen moralische und ideologische Verengungen der Interpretation und gegenüber aufgesetzten theoretischen Rastern in Anschlag bringt; der Forscherin bleibt die Aufgabe, diese Einsprüche zu respektieren und ihren Verstehensprozess nicht mit pauschalen Bewertungen zu blockieren.
Insgesamt zeigt sich die ethnografische Feldforschung als fortlaufender Prozess der Sinnstiftung[17], der, ausgehend von den ersten Fragen an das Feld, unsere Wahrnehmungen alltagsweltlicher Handlungs- und Sichtweisen in subjektive Beobachtungen und intersubjektive Forschungsdialoge, in Feldniederschriften, Deutungen und schließlich in ethnografische Texte übersetzt. Dieser Prozess der schrittweisen Verallgemeinerung und Objektivierung, in dem die Deutung einer Beobachtung oder Alltagsszene jeweils im Abgleich mit anderen, gegenläufigen oder bestätigenden Felddaten vorgenommen wird, basiert auf dem Mechanismus der Triangulierung. Darüber hinaus betrifft die Triangulierung auch ein methodenpluralistisches Vorgehen, das die quellenspezifischen Perspektiven verschiedener Medien als Korrektiv der Forscherinnensicht in die Forschung (und in die laufende Reflexion im Tagebuch) einbezieht. Neben Interviews kommt hierzu die historisch-archivalische Vertiefung ebenso infrage wie die begleitende, ideologiekritische Medienrecherche (z.B. zeigte sich in meinem Feld eine besondere Relevanz von Tageszeitungen, die gerne morgens im Zug gelesen und im Tagesverlauf diskutiert werden); zunehmend bedeutsam werden digitale Medien, die, von E- Mails, Apps und Webseiten bis hin zu Sozialen Medien, das methodische Instrumentarium der Feldforschung an den Schnittstellen von Online‑ und Offline‑Kommunikation vor neue Herausforderungen stellen.
Auf diese Weise nun ordnet sich sukzessive das Feld und zeichnen sich schrittweise verallgemeinerbare Deutungsmuster im kulturellen Geflecht des Alltäglichen ab. Die Interpretation entwickelt sich damit konsequent aus der Empirie heraus, während sie zugleich in Dialog mit der wissenschaftlichen Community tritt – insofern ließen sich auch Exzerpte aus der Sekundärliteratur als eine Art Feldnotizen betrachten, die im Deutungs- und Reflexionsprozess mitreden, ohne den empirischen Befunden modische Theoriegebäude, die zu anderen Ansätzen und Forschungskontexten gehören, aufzudrücken. Beispielsweise bieten die Sicherheitsdiskurse und die hier vorgestellten Motive der Bahnfahrt vielfältige Anküpfungspunkte für gesellschaftswissenschaftliche Überlegungen zur Implementierung von Angst und Kontrolle durch die Rhetoriken der Sicherheit, oder für Fragen nach der kulturellen Bedeutung alltagsweltlicher Übergangsräume. Diese wiederum führen zu Victor Turners Kulturtheorie der Passage und des liminalen Schwellenraums, der ambivalent durch einen Überschuss von Codes und Zeichen gekennzeichnet ist, ebenso wie durch die Erfahrung von Strukturlosigkeit, Leere oder Chaos (beides manifestierte sich in meinen Beobachtungen am Bahnsteig und im Zug), und der dementsprechende Strategien von Ritualisierung und Kontrolle provoziert.[18] Diese theoretische Reflexion kann ein Stück weit verstehbar machen, warum Staat und Institutionen in öffentlichen Durchgangs- und Verkehrsräumen ihre Sicherheitsmechanismen bis zur Absurdität steigern, während sich die Menschen mit ritualistischer Passivität vor diesen Zugriffen auf ihre Alltagsnormalität schützen; sie kann anregen, über die Verfasstheit einer Gesellschaft nachzudenken, in der die Bedrohungen des Grenzfalls, der Katastrophe und des (Terror-)Risikos zunehmend als Dauerzustand alltäglicher Lebenswelt gesetzt werden.
Ethnografische Textualisierung
Insgesamt dient das Feldtagebuch also als Medium der Wahrnehmung des Forschungsfelds, der dialogischen Auseinandersetzung mit ihm sowie seiner kulturanalytischen Deutung. Damit aber sind die Funktionen von Feldniederschriften im ethnografischen Prozess noch keineswegs ausgeschöpft: Zwar ist eine positivistische Verifizierung von Feldforschungsergebnissen nicht möglich, dafür jedoch erlauben es die Aufzeichnungen im Forschungsfeld, die Nachvollziehbarkeit und Plausibilität von Schlussfolgerungen und Erkenntnisprozessen für die Rezipientinnen und Rezipienten überprüfbar zu machen. Indem in ethnografischen Forschungsstudien nicht lediglich illustrative Beispiele aus der ‚Empirie‘, säuberlich in einem Extrakapitel separiert, den analytischen Resultaten beigegeben werden, sondern der Forschungs- und Interpretationsprozess als solcher transparent gemacht wird, werden die Lesenden mit ihrem Einfühlungsvermögen und kulturellen Erfahrungswissen als weitere Instanz der dialogischen Deutung, der Objektivierung und kritischen Korrektur ins Boot geholt.
Vorausgehend habe ich auf verschiedene Weise gezeigt, wie das Feldforschungstagebuch als Grundlage der Textualisierung einer Feldforschung eingesetzt werden kann. Wir können wörtlich aus dem Tagebuch zitieren, um den Leserinnen und Lesern unsere Felderfahrungen im damaligen Wortlaut nahezubringen; von zentraler Bedeutung ist jedoch die Textform der Dichten Beschreibung, in die die analytischen Ergebnisse der Feldforschung eingebettet werden. Clifford Geertz folgend leben Dichte Beschreibungen davon, dass die Bedeutungen eines kulturellen Felds unablösbar in die Felderfahrungen und deren Niederschriften einschrieben sind; hier entstehen mehrdeutige und multiperspektivische Deutungsräume, in denen sich nach der inneren Logik des Felds ein überindividuelles Sinngeflecht zusammenfügen kann – das sich jedoch verflüchtigt, sobald es zu abstrakten Strukturen eingedampft werden soll.[19] In einer Dichten Beschreibung wird eben dieses in den Feldniederschriften aufweisbare Sinngeflecht herausgearbeitet, indem redundante Passagen gekürzt, der Erlebenskontext von Feldsituationen inhaltlich und atmosphärisch nachgezeichnet und die für die Nachvollziehbarkeit einer Interpretation wesentlichen Informationen verdichtet werden.[20]
Zu diesem Zweck dürfen Forschungsnotizen und Tagebucheinträge frei bearbeitet werden, ohne Zitate und Auslassungen sichtbar zu machen. Allerdings ist es unerlässlich, Dichte Beschreibungen kenntlich zu machen, indem man z.B. Dialoge in indirekter Rede wiedergibt, beschreibende Passagen durch Absätze von theoretischen Schlussfolgerungen absetzt oder es den Leserinnen und Lesern durch den Tempuswechsel ins Präsens ermöglicht, sich in die Feldsituation hinein‑ und wieder herauszuversetzen. Keinesfalls darf ein Herkunftsnachweis fehlen, mit dem der Bezug zum Forschungstagebuch hergestellt und die beschriebenen Feldwahrnehmungen datiert werden.
Spätestens anhand der Textualisierung von Feldforschungsprozessen zeigt sich also, wie in der Ethnografie kulturelles Wissen aus der individuellen Erfahrung kommt und Objektivierung über die vielstimmige subjektive Wahrnehmung möglich wird, wie Annäherung und Distanzierung, literarische und wissenschaftliche Qualitäten erkenntnisleitend zusammenspielen. Am Anfang aber stehen die Neugier und der Mut, Fragen zu stellen und sich vom Feld zu immer neuen, unerwarteten Antworten führen zu lassen.
[1] Es handelt sich um eine über mehrere Jahre durchgeführte Feldforschungsstudie, die derzeit als Monografie mit dem Titel: „Absurde Angst. Narrationen der Sicherheitsgesellschaft” im Druck ist und im Frühjahr 2018 bei Springer erscheint.
[2] Der Name meiner Forschungsstadt ist zum Schutz der Anonymität von Gewährsleuten sowie aus Gründen der Verallgemeinerung und Distanzierung durch ein Pseudonym ersetzt.
[3] Katharina Eisch-Angus: Absurde Angst. Narrationen der Sicherheitsgesellschaft. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. Regensburg 2016, S. 99.
[4] Vgl. Forschungstagebuch zum 14.01.2009.
[5] Eine (zunächst) zeitsparende Möglichkeit besteht außerdem in der mündlichen Aufzeichnung mit späterer Transkription. Als methodologisches Desideratum wäre es wertvoll, die analoge Niederschrift per Hand im Vergleich zur Flexibilisierung der Teilnehmenden Beobachtung durch die wachsende Vielfalt digitaler Medien näher in den Blick zu nehmen und in Hinsicht auf die Quantität und Qualität der Felddaten, die jeweiligen (kontra‑)produktiven Effekte und möglichen Integrationsweisen zu untersuchen; ähnliches gilt für die Frage der manuellen und digitalen Verschlagwortung, Codierung und Auswertung.
[6] Forschungstagebuch zum 11.12.2009.
[7] Vgl. Eisch, Katharina: Grenze. Eine Ethnographie des bayerisch-böhmischen Grenzraums. München 1996; dies.: Erkundungen und Zugänge I: Feldforschung. Wie man zu Material kommt. In: Klara Löffler (Hg.): Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien 1998. Wien 2001, 27–46.
[8] Dieser und alle weiteren Namen von Gewährsleuten sind anonymisiert.
[9] Forschungstagebuch zum 14.01.2009. IRA: Irish Republican Army.
[10] Forschungstagebuch zum 23.12.2008.
[11] Allerdings tun sich hier (und dies ist typisch für Feldforschungsprozesse) häufig Grauzonen auf, in denen in einem sensiblen Balanceakt abgewogen werden muss, ab wann es möglich bzw. notwendig ist, das nicht-alltägliche Interesse der Forscherin im Feld mitzuteilen. Gehen informelle Feldgespräche in die spätere Forschungsdarstellung ein, sind die Gesprächspartner und ‑partnerinnen in jedem Fall durch Anonymisierung zu schützen.
[12] Forschungstagebuch zum 02.01.2009.
[13] Eisch-Angus 2016: Absurde Angst, wie Anm. 3, 105.
[14] Interview am 09.04.2007.
[15] Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei dem einleitenden Initial gelten, mit dem GesprächspartnerInnen bereits einen Ausblick auf das im Interview Gesagte geben, vgl. Jeggle, Utz: Das Initial. In: Tübinger Korrespondenzblatt 38 (1991), 33–36.
[16] Wie letztendlich meine eigene Deutung dieser Feldniederschriften ausgefallen ist, lässt sich im Kapitel „Zeichen und Züge. Bomben und die Abschottung der Alltagsmenschen“ meiner dazugehörigen Forschungsstudie nachlesen, vgl. Eisch-Angus 2016: Absurde Angst, wie Anm. 3, 99-107.
[17] Ich beziehe mich hier auf den assoziations- und konnotationsgeleiteten Prozess der unendlichen Semiose, die aus Sicht der pragmatischen Kultursemiotik überhaupt erst Sinn und Kultur ermöglicht. Auf diese Theorie und ihre ethnografische Anwendung wird näher eingegangen in Bonz, Jochen/Katharina Eisch-Angus: Sinn und Subjektivität. In: Ders./dies./Marion Hamm/Almut Sülzle (Hg.): Ethnografie und Deutung. Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens. Wiesbaden 2016, 27–58. Vgl. in methodologischer Hinsicht auch: Manning, Peter: Semiotics and Fieldwork. London u.a., 1987.
[18] Vgl. Turner, Victor W.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M,, 1989 [1969].
[19] Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, 7–43.
[20] Vgl. dazu besonders auch: Eisch-Angus, Katharina: „The borders of the heart.“ Raum, Gedächtnis, Ethnographie: ein Gespräch in Nordirland. Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVI/115 (2012) 1, 32–3.