Der Freiheitsbegriff hat Konjunktur - so war zumindest unser Empfinden bei der Gestaltung dieses Heftes. Das rege Interesse am Thema Freiheit in einer Zeit erhöhter Unsicherheiten, lässt allerdings auf Umstände schließen, die sowohl von strukturellen als auch von alltäglichen Zwängen gekennzeichnet sind. Für das Denken im "Digitalen Zeitalter" werden auch kulturelle Lebensbedingungen quasi digitalisiert. Arbeitsbedingungen aber auch private Beziehungen sind immer mehr in ein marktorientiertes Funktionsschema eingebunden, das eine "Freiheit" im Sinne eines "utopischen Denkens" nicht mehr zulässt. Rüdiger Safranski nennt die Freiheitstheoretiker wie Marx oder Hegel Ingenieure des Fortschritts: "Die Revolutionäre des wissenschaftlichen Sozialismus antizipieren im 19. Jahrhundert die Träume der Gesellschaftstechnologen des 20. Jahrhunderts." Die Interpretationen der "Ingenieure des Fortschrittes" sind im Bereich einer neoliberalen Gesellschaftstheorie an einem Endpunkt angelangt, der keine Utopie oder Vorstellung darüber zulässt, wie sich eine, wie auch immer geartete menschliche Freiheit außerhalb von marktwirtschaftlichen Theorien, beziehungsweise Verwertungsvorstellungen von Lebenspraxen denken lässt.
Als letzte Beschreibung einer gelungenen oder positiven Gesellschaftsutopie gilt der Science Fiction Roman von Ursula K. LeGuin "Planet der Habenichtse" aus dem Jahr 1974. Die Tochter des Anthropologen Alfred L. Kroeber beschreibt hier eine Thematik, die durchaus auch einen Wunsch nach Freiheit beinhalten könnte, denkt man an die Darstellungen in Bourdieus "Elend der Welt", auch aktuelle Relevanz hätte. LeGuin beschreibt in ihrem Roman die reale Möglichkeit eines Ausstieges aus der technokratischen Welt in eine "bessere" Gesellschaft. Kontakte zwischen Außen und Innen sind möglich, wenn die Gesandten die jeweils andere Welt persönlich begreifen und erfühlen, sich als ein Teil von ihr empfinden. Erst wenn sich die Menschen in das fremde Milieu eingelebt haben, ist ein wirklicher Kontakt der beiden Kulturen möglich. Freiheit ist für sie eine Form der Akzeptanz des Anderen und des Eigenen. Der Einfluss der Anthropologen - den Nachfolgern von Franz Boas - ist unübersehbar. In einem Interview beschreibt LeGuin diese Wissenschafter als "ziemlich freie Seelen", die ein intensives Interesse an Individuen und unterschiedlichen Kulturen haben und zudem hätten sie auch "diesen weiten Horizont große Ideen zusammenzufügen". Sie liebten die Vielfalt der Menschheit, sie konnten sie geradezu verschlingen.
Die Freiheit, Anderes zu denken und als Qualität zu erkennen, steht auch im Vordergrund der Beiträge dieses Heftes. Susanne Geser stellt die Frage nach dem gegenwärtigen Bild postmoderner Funktionen des Körpers. Für den Körper bedeutet die allgegenwärtige Mobilität anstatt Bewegung Bewegungslosigkeit. Das Gefühl frei zu sein steht für sie vor dem Bedürfnis, etwas frei zu machen oder die eigene Freiheit zu praktizieren. Freiheitsvorstellungen internationaler bzw. interkultureller Beziehungen sind Inhalt bei Rada Ivekovic. Sie geht der Frage nach, wie politische Ereignisse die Differenz individueller Befindlichkeiten beeinflussen. Johanna Rolshoven analysiert am Beispiel der "Freizeitimmobilie Zweitwohnung" eine Befindlichkeit derzeitiger Wohnbedürfnisse, die sich in der Möglichkeit einer Verdoppelung der Lebensweise äußert, die als Befreiung wahrgenommen werden kann. Michael Zinganel beschreibt anhand des Einfamilienhausbaues auf Grundlage von Bourdieu's "Der Einzige und sein Eigenheim" die Möglichkeiten oder die Unmöglichkeiten individueller Freiheit. Einerseits verspricht das Eigenheim eine Befreiung von öffentlichen Verpflichtungen und andererseits ist das Eigenheim jedoch der Vermarktungsgegenstand schlechthin.
Anna Schuster verweist in ihrem literarischen Beitrag auf die Möglichkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen und stellt den Begriff der Freiheit dadurch auf die Probe. Sabine Eggmann sucht in ihrem Beitrag nach den Freiheitsvorstellungen neuer Unternehmenskulturen. Als Teil von Dienstleistungsbetrieben beschreiben viele Velokuriere Freiheit als Wert und somit als Basis ihrer Tätigkeit. Uta Rosenfeld behandelt schließlich das klassische Freiheitsmotiv der modernen Welt: das Auto. Die Möglichkeit eigene körperliche Grenzen zu überschreiten, ist auch heute noch wichtiger Bestandteil automobiler Fortbewegung - besonders die Bilder der Werbung leisten einen Vorschub. Die Wechselwirkung von Freiheit und Zwang menschlicher Existenz steht im Vordergrund des philosophischen Exkurses von Adolf Rami.
Im buchkuck rezensiert Sönke Löden das Buch von Ina-Maria Greverus "Anthropologisch reisen". Die Grenzerfahrung der Begegnung zwischen "Ich" und dem "Anderen" spielt dabei die zentrale Rolle und rundet somit die Herangehensweisen zum Thema Freiheit auch in einem wissenschaftlich reflexiven Sinne ab. Für die Illustration des Heftes hat uns Roland Renner eine Fotoreihe zur Verfügung gestellt, die den Begriff Freiheit als Ebene der Wahrnehmung für die Interpretation offen lässt.
Manfred Omahna