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Zur Einführung

Erschöpfung ist ein paradigmatischer Begriff unserer turbulenten und anstrengenden Zeit. Vieldeutig, antagonistisch und ambivalent eignet sich „Erschöpfung“ als Kulturbegriff, der Kunst, Ökologie, Politik, Individuum, Alltag und sogar die Lebensdauer von Materialien betrifft, um grundlegende Dimensionen der Gegenwart zu erfassen, zu illustrieren und in ihrer bisweilen paradoxalen Komplexität greifbar zu machen.

Die Zeit der weltweiten epidemischen Verbreitung eines mutierenden Virus seit Anfang des Jahres 2020, die damit verbundene Krankheitsgefahr und -angst, die Regierungserlasse und Schutzmaßnahmen als Versuche der Eindämmung haben das komfortgewohnte Westliche Individuum des 21. Jahrhunderts mit zuvor in dieser Weise nicht gekannten Bedrohungsszenarien und Zukunftsängsten konfrontiert. Diese pandemiebedingten Zukunftsängste überlappen sich mit weiteren Krisenerfahrungen im Zuge von Klimaveränderung, Kriegsgeschehen und gesellschaftlicher Fragmentierung. Bei vielen Menschen führen diese Erfahrungen zu Hinterfragung und Verzweiflung, zu einem andauernden Zustand der emotionalen Erschöpfung, der Lähmung und Hilflosigkeit.

Solche Krisen fordern jenseits des Sanitären individuelles, gesellschaftliches und Regierungshandeln (heraus). Mit einem historisierenden Blick auf die letzten 70 Jahre stellt diese Krise sich in gewisser Weise als Endetappe einer zunächst vielversprechenden Entwicklung dar, deren Ressourcen, Systeme und Strukturen, Versprechen, Möglichkeiten und Hoffnungen sich erschöpfen, ohne dass sich das erhoffte „Neue“ abzeichnet: die Utopie, die Perspektive, die Verbesserung.

Diese für die Gegenwart noch greifbare und in ihren Effekten spürbare historische Entwicklung erstreckt sich zunächst über die mancherorts „glorreich“ genannten Nachkriegsjahrzehnte des „grenzenlosen Wachstums“. Es sind die Jahre des ökonomisch-technischen „Aufbaus“, der von der Arbeiter:innenschaft und den Gewerkschaften erkämpften sozialen Werke, der (noch) klaren politischen Positionen; die Jahre des „Kalten Krieges“ als ideologische Hintergrundmelodie und regulierendes Bedrohungsszenario, der Geburt der über die Bedarfsdeckung hinausgehenden Produktions- und Konsumgesellschaft des Überflusses.

Auf sie folgen die Jahrzehnte der Nachmoderne, die nach 1968, parallel zur ersten Ölkrise mit Ökologie- und Gesellschaftskritik einsetzen. Sie machen das Bewusstsein um die Ressourcenendlichkeit, den Begriff der Ausbeutung und die Genderfrage stark und münden in zukunftsweisende Gesetzeswerke: u.a. in Klimakonventionen, Gleichstellungsartikel und Regulierungen der Arbeitswelt. Seit den 1990er Jahren setzen die Jahrzehnte der Übertreibung ein. Hier gehen Ent-Politisierung, Ent-Kritisierung von Lebensverhältnissen, Zivilgesellschaft und Parteipolitiken mit einer transnationalen Wirtschaftsliberalisierung einher. Immer ungebremster gewinnorientiert entwickelt sich dieser „neue Liberalismus“ in Bezug auf staatliche Regularien, Steuerleistungen der Wirtschaft, gesetzlich verankerte Lohn- und Sozialleistungsverordnungen, Re-Investitions- und Ressourcenverbrauchspolitiken.

Für die westeuropäische ebenso wie die Weltgesellschaft werden im beginnenden 21. Jahrhundert die Folgen dieser Entwicklungen immer massiver spürbar. Entgrenzung und Deregulierung, die Zunahme von Armut und Elend, durch Raubbau und Übernutzung von Ressourcen entstehende Klimakatastrophen, die abnehmende Glaubwürdigkeit von Zukunftsversprechen und vieles mehr schaffen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich für viele Angst und Überforderung subkutan in Körper und Seele einschreiben, in der Strategien der Konsum- und Verbrauchsdekadenz politisches Bewusstsein überlagern und vom Blick auf die Realitäten ablenken. Die pandemische Gegenwart mag hier fast wie die logische Etappe einer Entwicklung zur Erschöpfung erscheinen; als Kollateralschaden des Kapitalismus, der all diese Fehlentwicklungen sichtbar, spürbar und greifbar macht, da er alle Menschen betrifft. Die in dem Beitrag der Bonner Autorinnengruppe zitierten Ökonomen Michael Hüther, Matthias Diermeier und Henry Goecke (2021) argumentieren, dass die Erschöpfung der Gegenwart durch Spannungsverhältnisse verursacht wird, „wie sie in historisch vergleichbaren Momenten in Westeuropa nach Phasen enormer sozioökonomischer Entwicklung zu einer Zunahme von ‚Erschöpfung und Müdigkeit‘ geführt hätten.“ (Vgl. Bonndemic, in diesem Heft)

An diese allgemeine Darstellung anschließend drängen sich Fragen danach auf, wer die Auswirkungen von ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Krisen, wer die Schattenseiten unseres Konsumverhaltens unmittelbar zu spüren bekommt. Wer spricht von Erschöpfung? Oder anders formuliert: Wer kann es sich leisten, erschöpft zu sein?

Der Begriff der Erschöpfung in dem vorliegenden empirisch-kulturwissenschaftlich argumentierenden Kontext erlaubt es, an den banalen, menschliches Leben und menschliche Arbeit betreffenden, Symptomatiken anzusetzen und die Konsequenzen der Moderne auf diesen Ebenen des Alltäglichen herauszuschälen. Seine Ausdeutung berührt ein Krisengeschehen, das zwischen Beginn und Endlichkeit von Kultur und Natur ansetzt. Erschöpft-Sein betrifft ein nicht mehr weiter-Können; es impliziert ein Zuviel, eine Überforderung, die Überanstrengung. Es beschreibt das Überziehen von Grenzen, das sich in psychisch-mentalen Dispositionen ebenso manifestiert wie in der Knappheit von Lebensressourcen (Luft, Wasser, „Bodenschätze“), wie in den sozialen Lagen der erneut wachsenden Schichten- und Geschlechter-Ungleichheiten, wie in der aktuell begrenzten Reichweite zukunftsgerichteten Welterklärungswissens. Die Alltagserfahrung des mobilen Menschen, dessen Telefon- und Computer-Akkus sich zwischen zwei Aufladestationen zu erschöpfen drohen und damit in den gewohnten Rhythmus des Linearen eingreifen, steht sinnbildlich für das Ineinandergreifen des Technischen und des Sozialen.

Erschöpfte Menschen, erschöpfte Ressourcen, erschöpftes Wissen, erschöpfte Zukunftsnarrative und politische Imaginationen: Der Begriff zeigt in seiner ganzen Bedeutungsbreite die Endlichkeit und Fragilität von Leben, Tun und Lebensbedingungen auf; er impliziert Grenzerfahrungen und Grenzgeschehen. Zugleich bezeichnet die Wortwurzel mit ihrer Bedeutungsdimension des Er-Schöpfens Schaffensprozesse komplexer Werke, die an der Ausschöpfung kreativer Möglichkeiten ansetzen. Die Schöpfungsgeschichte – die Erschaffung oder Erschöpfung der Welt – als Erzählung allen Anfangs der Kultur scheint daher eng verknüpft mit ihrem Ende: dem Verbrauch der Welt, der Ausschöpfung aller Lebensressourcen. Das ist die optimistische Perspektivierung von „Er-Schöpfung“, die mit psychischen, sozialen und natürlichen Ressourcenfragen eng verknüpft scheint. So mag „Erschöpfung“ auch als Gradmesser eines menschenwürdigen Maßes an kulturellen und sozialen Verhaltens- und Umweltbedingungen herhalten; „Erschöpfung“ als liminaler Moment des zwangsläufigen Innehaltens, an dem Änderung möglich ist, und zugleich als Impuls, etwas ändern zu müssen. Die Entwicklung des Sich-Erschöpfens fordert die Regenerierung der Welt als Zukunftsweg heraus: als Synonyma für Regenerierung nennt das Deutsche Wörterbuch u.a. Regeneration, Recycling, Wiedergewinnung, Wiederaufbereitung, Wiederverwendung, Erneuerung, Recovery, Wiederherstellung…

Die Beiträge dieser Ausgabe berühren in ihrem kulturwissenschaftlichen Facettenreichtum die „Erschöpfung“ individueller, sozialer und ‚natürlicher‘ Ressourcen anhand unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder und Perspektiven. Dabei ist diese Zeitschriftenausgabe selbst nicht loszulösen von den darin erörterten erschöpft-schöpfenden sowie schöpfend-erschöpften Wirrungen. Auch können die Beiträge in Zusammenhang mit den Nicht-Beiträgen gesehen werden; mit den Leerstellen jener Texte, die aufgrund erschöpfter Ressourcen nicht fertiggestellt oder begonnen wurden. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie und zahlreichen weiteren Krisen sind wir alle zu versierten Erschöpfungspraktiker:innen geworden.

Dies betrifft Frauen* in besonderer Weise. Wie sehr sie – als von besonderen Rollenzuweisungen betroffene Gruppe – für eine Erschöpfung der Gesellschaft insgesamt stehen, hat die unlängst erschienene Publikation von Franziska Schutzbach eindrücklich aufgezeigt.[i] Der Beitrag von Claudia Willms spricht von einem „Revival des Androzentrismus in Krisenzeiten“ und auch die Beiträge von Barbara Wittmann und Toni Reichert berühren die Genderfrage teils im dynamischen Zusammenspiel mit weiteren Zuschreibungen und Metaphern als fundamentale Gesellschaftsfrage. Die Gesellschaft, ihre Strukturen und Auffassungen, überlässt Frauen die Sorge und Care-Arbeit für alles Soziale: für den Zusammenhalt, den Ausgleich, die Empathie; für Pflege, Putzen, Trösten, Kümmern ohne die gesellschaftlich üblichen Währungsformen der Anerkennung. Die vor allem im 19. Jahrhundert geformte Ideologie der ‚Frau als Ressource‘ impliziert, dass Erschöpfung als legitimer Zustand des Nicht-mehr-Könnens bei Frauen nicht sein darf. Sie (die Frau und die Erschöpfung) werden infantilisiert, minimiert, diskriminiert; dies so weitgehend, dass Krankheitsbilder der Erschöpfung – der Beitrag von Barbara Wittmann zeigt dies auf – in der Schulmedizin desavouiert sind. Die erschöpfte Frau wird dadurch zu einem hilflosen Simulacrum, nicht mehr als ein simulierendes Geschöpf und damit unsichtbar als Tribut und Symptom der Gesellschaft.

Die Autorinnengruppe rund um das Bonner kulturanthropologische Forschungsprojekt „Bonndemic“, Jana Brass, Ruth Dorothea Eggel, Valeska Flor, Victoria Huszka, Michaela Ressing und Jasmin Sina, ist dem Alltag von Menschen in Bonn während der COVID-19-Pandemie gefolgt und konnte vor ihrem empirischen Hintergrund auf unterschiedlichen Ebenen Dimensionen des Erschöpfungsbegriffes analysieren. Die Kulturanthropologinnen stellen fest, dass sowohl die Erschöpfung der Menschen als auch ihre schöpferische, und in diesem Fall politisch motivierte Kreativkraft sich als Folge eines Spannungsfeldes zwischen „Struktur“ und „Strukturlosigkeit“ der neu zu lernenden pandemischen Alltage deuten lässt. Erschöpfung manifestiere sich hier, so die Autorinnen, auf den drei verschiedenen Ebenen des Räumlichen, Sozialen und Zeitlichen. Sie resultiert aus der Anstrengung, sich im Alltag zu orientieren, aus den vielfältigen Einsamkeiten des Lockdowns, aus der Auflösung zeitlicher Ordnungen durch Verbote, die die gewohnten Raumstrukturen verändern.

Barbara Wittmann beschreibt die Alltage von drei an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) erkrankten Frauen. Wie äußern sich die unterschiedlichen Symptomatiken und mit welchen Hürden finden sich die Betroffenen konfrontiert? Die Autorin spürt der vom medizinischen Personal häufig entgegengebrachten Psychosomatisierung nach und erkennt die neue pandemiebedingte Aufmerksamkeit für Erschöpfungssymptome als Chance für eine gesellschaftliche Sensibilisierung sowie ein Aufbrechen der bestehenden diskriminierenden (Nicht-)Wissensregime.

Michaela Bstieler nimmt in ihrem Beitrag über „Mikropolitiken des Atmens“ die Atemlosigkeit der Gesellschaft zum Ausgangspunkt, um sie zu einer kollektiven, kritisch-transformativen Körperübung umzudeuten. Am Beispiel ihrer Forschung in einer Wellness-Therme stellt sie grundlegende Überlegungen zu Subjektivierungen gesellschaftlicher Prozesse an. Kurorte als Orte der Regenerierung erschöpfter Arbeitskörper, gewissermaßen des Luftholens erscheinen als Heterotopien der modernen Atemlosigkeit. Der Akt des Atemschöpfens, wenn auch durch und durch von Ordnungsregimen durchdrungen, wird zu einem Akt der Selbstfürsorge des erschöpften Selbst.

Toni Reichert stellt in seinem Aufsatz über „Burnout als Metapher“, inspiriert von Susan Sontag, Bedeutungszusammenhänge der Diagnosen Burn-Out und Depression einander gegenüber. Er erörtert Metaphern von Leidenschaft und wirft Fragen zu Zuschreibungen und Privilegien auf. Wer leidet an einem Burnout, wer an einer Depression? Und welche Bedeutungsmuster stehen damit in Zusammenhang?

Susanne Sackl-Sharif entwickelt in ihrem Essay über „Erschöpfte Räume“ am Beispiel umstrittener Raumpraktiken von Skater:innen auf einem Grazer Marktplatz ihren innovativen Zugang zu einem Konzept des erschöpften Stadtraumes. Sie versteht darunter die Erschöpfung eines öffentlichen Raumes, der im neoliberalen Stadtregime als von Verbotspolitiken formatierte, einseitig genutzte Ressource die soziale Unausgewogenheit seiner möglichen Raumnutzungen herbeiführt.

Lea Breitsprecher möchte in ihren Überlegungen zu erschöpften Ressourcen Geigenbau als ökonomisches Handlungsfeld verstehbar machen. Dabei diskutiert sie komplexe Dimensionen des Ressourcenbegriffs in seinen zugleich natürlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen und gelangt darüber zu einer theoretischen Differenzierung eines kulturanthropologisch akteurszentrierten Begriffsverständnisses. Die „drohende Erschöpfung der Ressource Holz“ fordere, so die Autorin, zu einem präventiven Handeln auf; sie erweist sich als eine Art Marker, der die Bedeutung der Verarbeitung kostbarer Holzarten für den Geigenbau prägt und verändern kann.

Kathrin Stiegler thematisiert Momente einer schöpferischen Erschöpfung im Handlungsfeld von Lehrkräften an Förderschulen. In ihrer Tätigkeit als Aushilfslehrkraft an einer Schule für Jugendliche mit Einschränkungen in der Alltagsbewältigung erfährt sie selbst Erschöpfungsmomente, die an Überforderung und Kontrollverlust geknüpft sind. Anhand des theoretischen Konzeptes der Netzwerkkonstellationen erörtert die Autorin Ursachen und Zusammenhänge von Erschöpfung und zeigt Möglichkeiten auf, wie diese in kreativ-schöpferische Praktiken umgeformt werden können.

Abschließend reflektiert Claudia Willms mithilfe ethnografischer Vignetten Dimensionen von Er-/Schöpfung. Sie veranschaulicht die Thematik aus der Erfahrung am eigenen Leib und wissenschaftlichen Selbst heraus, unter den Lockdown-Bedingungen der Pandemie. Aus der Präsenz ihrer eigenen Gegenwartserfahrung, wie viele sie teilen: Als Arbeitnehmerin mit einem zu betreuenden Kleinkind im Homeoffice befragt sie überaus luzide einstige Forschungszusammenhänge mit der Brille des Themas Er-/Schöpfung und arbeitet dabei zahlreiche, auch historische Facetten des Themas heraus. Ihr eigenes erschöpftes Selbst erfährt sie als Lähmung, das Interesse am Zeitgeschehen zu verlieren, und gelangt zu dem Schluss, dass Politisch-Sein etwas mit nicht Absorbiert-Sein, mit frei für etwas sein zu tun hat. Kritische Theorie und Praxis und damit auch Kreativität könne, so Willms, nur „am Leben erhalten werden“, wenn sie „nicht verkrustet und verklumpt“.

Zwei künstlerische Beiträge rahmen den kuckuck „Erschöpfung“: Auf der Homepage zum Anhören bereit steht eine Produktion von Justin Winkler, der den Topos des Außer-Atem-Seins aufgreift. Dieser erscheint in Fluchtgeschichten von Bankräubern und anderen Verbrechern und prägt Kino, Leben und Tod.

Die Heft Illustration erfolgt auf der Grundlage einer während des Lockdown entstandenen Arbeit der Grazer Künstlerin Reni Hofmüller: „Und trotzdem wollen wollen…“. Sie legt ein filigranes Netz aus, das mit einer feministischen Collage aus paradigmatischen Aussagen übersät ist. La condition des femmes zwischen Liebe und Selbstliebe, kapitalistischer Ausbeutung und unaufgearbeitetem Faschismus.

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und Schöpfen neuer Impulse!

Johanna Rolshoven und Hanna Wäger

 



[i] Vgl. Franziska Schutzbach: Die erschöpfte Frau. Wider die weibliche Verfügbarkeit. München 2021.