Ostwärts. Dieses Thema ist für uns wichtig und höchste Zeit geworden. Nirgends sonst in Europa sind die Turbulenzen des kulturellen Flusses, jene als Glokalisierung bezeichneten Phänomene des Aufeinandertreffens globaler Einflüsse und ihre regionale oder lokale "Verarbeitung", so deutlich zu beobachten wie im Gefolge des politischen und wirtschaftlichen Umbaus Osteuropas. Der Titel ostwärts soll nicht nur unseren aus dem Westen nach Osteuropa gerichteten Blick bezeichnen, sondern auch die westlichen Zuschreibungen und Mythen des Ostens, unsere Vorstellungen über die Uniformität - sowohl des real existierenden Sozialismus als auch der Transformationsbarrieren und der dafür verantwortlichen Mentalitäten - reflektieren und dekonstruieren.
Letzten Endes sind es nicht nur die Vorstellungen der Redaktion, welche die Inhalte eines Heftes bestimmen, sondern auch jene der Autorinnen und Autoren und so ergab sich ein breites Spektrum der Beiträge in geografischer wie thematischer Hinsicht. Nicht zufällig sind zwei Autoren (Löden und Lozoviuk) Mitarbeiter des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden, welches schon aufgrund seiner Lage ein besonderes Interesse an Forschungen über Osteuropa hat. Auch die starke Fraktion von Grazer Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Disziplinen belegt, dass Graz aufgrund seiner Lage eine besondere Rolle bei der Erforschung des südosteuropäischen Raumes spielt.
Sönke Löden widmet sich dem nach wie vor problematischen Verhältnis von Ost- und Westdeutschen und zeichnet den "Modus des Fortlebens" einer ostdeutschen Kultur nach, die ihre Wurzeln in einem Ethos hat, in einer spezifischen Moralität, deren wechselseitige Anpassung wohl noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Sabine Hess hat mit ihren Studien über slowakische Aupairs und mit ihren Arbeiten zu Geschlecht und Globalisierung einen festen Platz in der Forschungslandschaft der Europäischen Ethnologie zu Osteuropa. In ihrem Beitrag für diese Ausgabe des Kuckuck zeigt sie, wie das Transformationskonzept zu einem "gate keeper" für die Osteuropa-Forschungen geworden ist und sich damit ein "Diskurs der Rückständigkeit" etabliert hat, der die Kategorie Gender ignoriert. Petr Lozoviuk stellt Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Ethnografie des realsozialistischen Alltags vor und zeigt am Beispiel einer böhmischen Industriestadt, anhand welcher Modernisierungsvorstellungen die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei in den Alltag der Menschen hineinzuwirken versuchte und welche Spannungsfelder sich daraus ergeben. Bettina Messner beleuchtet die "neuen Grenzziehungen zwischen Ost- und Westeuropa" in der Kunstszene und kritisiert das hegemoniale westliche Kunstverständnis. Sie macht deutlich, dass in diesem Kontext die Zuschreibungen von "ost", "west" oder "mitteleuropäisch" eine fragile Konstruktion darstellen. Ulf Brunnbauer und Karin Taylor zeichnen die vom kommunistischen Regime Bulgariens betriebene Politisierung des Alltags am Beispiel von Familie und Jugend nach, die zu einem Rückzug der Bevölkerung ins Private geführt habe - ein Modus sozialistischen Alltags, der auch für andere Länder Osteuropas beschrieben wurde. Margareth Otti schildert mit dem Arizona-Markt in Paradebeispiel für einen Ort des Transits, der Transformation, der Raumaneignung - einen Möglichkeitsort, an dem die Interessen der Schattenökonomie sich mit jenen der realen Ökonomie kreuzen und der zum Spielball politischer Planungen wird. Hannes Grandits schließlich veranschaulicht am Beispiel von Trebinje die Logiken politischen und kulturellen Handelns, mit denen um ökonomische und symbolische Vorherrschaft gerungen wird.
Die Fotoillustrationen hat uns Grazer Künstler Bernhard Wolf zur Verfügung gestellt, der 10 Jahre Russland bereiste, "um Dinge zu orten, die außerhalb des Aufmerksamkeitsradars der Massenmedien liegen." Die Bilder sind aus der Faszination des Fotografen für die jahrhundertlange eigenartige Anziehung zwischen Westeuropa und Russland entstanden.
Johannes Moser